Noch nie seien die Zahlen so eindeutig und schonungslos gewesen, sagt Edgar Wunder vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD, der die Studie mitverantwortet. Zum ersten Mal wurden nicht nur Kirchenmitglieder, sondern die Gesamtbevölkerung befragt, welche Wichtigkeit Kirche und Religion in ihrem Leben hat. Zum ersten Mal machte auch die katholische Kirche bei der Untersuchung mit, die bereits seit den 1970er Jahren in jeder Dekade durchgeführt wird.
Klar sei auf jeden Fall jetzt schon, dass sich die Mitgliedszahlen der Kirchen in den nächsten Jahrzehnten halbieren werden. Es gebe kaum einen Konfessionswechsel. Wer einmal aus seiner Kirche austritt, trete in der Regel der heute schon wachsenden Mehrheit der Konfessionslosen bei, weiß Soziologe Edgar Wunder. Nicht einmal die Freikirchen könnten vom Exodus aus den einstigen Volkskirchen profitieren.
Es brauche daher vielleicht so etwas wie eine "palliative Theologie", heißt es von einem Teilnehmer im Workshop über Kirchenreformen. Die Kirche, Haupt- wie Ehrenamtliche, müssten sich wie beim Tod, ob sie nun wollen oder nicht, von den bisherigen Strukturen verabschieden. Es brauche nun einen heilsamen Raum für Wut und Trauer. Erst dann könne etwas Neues entstehen. Denn die KMU6 biete auch Hoffnungsfrohes.
Kirchen seien nicht allmächtig, aber auch nicht ohnmächtig, sagt Edgar Wunder. So sei das Vertrauen in die eigene Kirche bei den Evangelischen seit 1984 gleichbleibend gleich und steige sogar noch leicht seit 2010. Noch vor Jahrzehnten war das Schlagwort der "Patchwork-Religiosität" in aller Munde, als würden sich die Menschen ihren Glauben aus Lebensberatungs-Büchern und Wochenendkursen zusammenbasteln. Heute weiß man, dass die personale Begegnung eben auch in Kirchengemeinden einen viel größeren Einfluss hat.
Zum Beispiel habe der Konfirmanden- oder Religionsunterricht eine ähnlich große Bedeutung für die Sozialisation wie die eigene Familie. Die namentliche Bekanntheit der Pfarrpersonen im Dorf oder Stadtbezirk sinke nicht. Man weiß, wer für die Kirche steht und spricht. Gerade in den Gemeinden finde sich ein hohes Ehrenamtsengagement.
Vertrauensverlust in Institutionen ist der Grund
Dass die Kirchenbindung und Religiosität dennoch zurückgehe, habe vielmehr damit zu tun, dass es einen allgemeinen Vertrauensverlust in Institutionen gebe. Heißt: Die personale Begegnung in den Gemeinden, bei Caritas und Diakonie wird meist positiv bewertet, generiert aber nicht automatisch eine Mitgliedschaft. Andererseits erwarteten viele Menschen, dass sich die Kirchen mehr politisch engagieren sollten, etwa in der Flüchtlings- oder Klimafrage, statt sich nur auf das Religiöse zu beschränken.
Diese Ergebnisse seien eine Spiegelung der Realität, sagt der katholische Theologe Jan Loffeld von der Universität Tilburg, der als Beiratsmitglied zum ersten Mal in der Kirchenmitgliedsuntersuchung involviert ist.
"Eine ganz wichtige Information ist, dass wir im religionspädagogischen Bereich offenbar eine höhere Wirksamkeit haben, als sich das an der Oberfläche zeigt. Oder die große Erkenntnis, wie positiv der Großteil der Deutschen über ihre Kontakte zum kirchlichen Bodenpersonal denkt. Die KMU6 zeigt, dass der Großteil der Deutschen positive Erfahrungen mit uns macht", sagt Loffeld, der im niederrheinischen Kleve groß geworden ist.
Die KMU entlastet die Ehrenamtlichen
Nun mit der KMU6 könne es auch eine gewisse Entlastung für die Haupt- und Ehrenamtlichen geben. Denn es gebe keine 1:1-Anschlüsse, als würde eine gute Jugendarbeit automatisch mehr Kirchenmitglieder generieren.
"Ich predige gut, also glauben die Leute mehr, das stimmt so nicht. Oder wir machen eine tolle Katechese, eine tolle Erstkommunionvorbereitung, und schon sind die Kommunionfamilien eifrige Kirchgänger. Diese Kausalitäten stimmen nicht. Das hat nichts damit zu tun, dass die Begegnung schlecht war, sondern das hat mit größeren Verschiebungen zu tun, die in unserer Kultur insgesamt festzustellen sind", interpretiert Loffeld die Ergebnisse.
So sieht das auch Johannes Wischmeyer, Leiter der Abteilung Kirchliche Handlungsfelder bei der EKD in Hannover. "Das kann Theologinnen und Theologen im kirchlichen Dienst ja verrückt machen, wenn man an sie so übertriebene Erwartungen heranträgt, als sollten sie überall in die Lücke der Sinndeutung in der Gesellschaft einspringen und da heilen, was in ganz anderen Bezügen verloren gegangen ist", sagt Wischmeyer. Die Kirche könne nur weiter ihre guten und lebensdienlichen Angebote machen. Nicht aber, indem sie immer flacher werde, sondern indem sie Fantasie entwickele.
"Der Faktor sollte nicht sein, dass es möglichst schnell geht oder dass auch bei der Taufe Jugendlichen oder Erwachsenen etwas schnell ermöglicht wird, was es eigentlich zu erarbeiten gälte. Taufe verbindet sich immer mit einer Einführung, einer lebenspraktischen Unterweisung, was es bedeutet, als Christin, als Christ zu leben. Aber das muss ja nicht alles vor der Taufe stattfinden. Wichtiger ist es doch, dass Gemeinden Menschen, die zu ihnen gestoßen sind, nach der Taufe einen guten Weg weisen, wie sie weiterkommen, wie sie Platz in der Gemeinschaft finden können und wie sie dann auch ihr Wissen über den Glauben schrittweise vertiefen können", sagt Wischmeyer. Also erst Taufe und dann der Taufunterricht.
Vielfach wurde in den letzten Jahren kritisiert, dass etwa die EKD zu politisch sei, wie eine Art "Greenpeace mit Kreuz". Nun aber zeige die KMU6, dass politisch wache Kirchen genau auf dem Weg seien, den die Menschen im Land von ihnen erwarten.
Das Evangelium hat eine gesellschaftliche Bedeutung
"Vielleicht auch, weil sie einen Sensus dafür haben, dass das Evangelium eben nicht in die Sakristei gehört, sondern gesellschaftlich eine Bedeutung hat. Die, die das andere sagen, sind einfach nur lauter. Dass ist das Gute an so einer Studie, dass die lauten Töne rausgedämmt werden und man guckt, was wirklich an Meinungen lebt", sagt der katholische Theologe Loffeld.
Zudem hätten die Kirchen einen einmaligen Traditionsschatz, den sie den Menschen anbieten könnten. So könnten gerade die Christen in Kriegs- und Konfliktfällen zur Versöhnung beitragen. Caritas und Diakonie seien keine Imageretter ihrer Kirchen, sondern seien tätig, weil sie im anderen Menschen zuerst Gott sehen würden. Wer ein kirchliches Ritual feiere, zapfe ein kulturelles Bewusstsein der Menschheit an. Nicht umsonst sprächen die Menschen von Kirchen oder Klöstern als ihren persönlichen Kraftorten.
Es gibt keinen Masterplan
Nun müssten die Gemeinden vor Ort sehen, was sie den Menschen an Ressourcen sinnvoll anbieten könnten. Klar sei aber mit der KMU6, dass es nicht wie in früheren Jahrzehnten in der EKD noch gewollt die große Kirchenreform geben könne.
"Diesen einen Masterplan, der alles verändert, den gibt es nicht. Das tut uns allen sehr gut, Hauptamtlichen wie Ehrenamtlichen in der Kirche, wenn wir darüber nachdenken, was wir für konkrete Ziele haben. Wenn wir uns von übergreifenden Rahmenplänen verabschieden und im bescheideneren Rahmen versuchen, Gemeinde Jesu Christi vor Ort zu sein", sagt der evangelische Theologe Johannes Wischmeyer.
Die Kirchen hätten also keinen Grund, in Heulen und Zähneklappen zu verharren. Sicher werden die Strukturen andere werden müssen. Aber das bedeute nicht, dass sie dadurch schlechter würden, ergänzt Theologe Jan Loffeld: "Die Minderheitensituation kommt auf uns zu wie in den Niederlanden oder Skandinavien. Es ist so, dass diese Minderheitenposition in keiner Weise eine depressive ist. Man kann den Verlust akzeptieren und produktiv damit umgehen. Das wäre genau das Licht am Ende des Tunnels."