Die Mitglieder der Evangelischen Kirche seien trotz des Rückgangs immer noch sehr viele und mit Kraft und Mut sei es möglich, Menschen, die sich für Religion interessierten, zu erreichen, sagt die Präses der EKD-Synode Anna-Nicole Heinrich. Neue Verbindungen zu Menschen und Gruppen zu knüpfen, kann gelingen: "Wir müssen raus aus unserer Bubble."
Nach den Ergebnissen der am Dienstag veröffentlichten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) gehen Kirchenbindung und Religiosität der Deutschen schneller zurück als erwartet. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass die vor vier Jahren durch eine andere Studie prognostizierte Halbierung der Mitgliederzahl bis 2060 bereits in den 2040er Jahren erreicht sein dürfte. Derzeit ist laut der Studie noch eine knappe Mehrheit der Deutschen christlich-konfessionell gebunden - evangelisch, katholisch oder orthodox. Nach derzeitigem Trend werde aber bereits 2024 der Anteil der christlich-konfessionell Gebundenen unter 50 Prozent sinken.
Auch die Ratsvorsitzende der EKD, Annette Kurschus, sieht den laut der Studie beschleunigten Rückgang der Kirchenbindung eher als Herausforderung. Sie blicke zugleich ernüchtert und ermutigt auf die Zahlen, sagte Kurschus bei der Vorstellung der sechsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung. Dass die Zahlen zurückgehen, "ist eine Tatsache, die keiner schönreden kann", sagte die westfälische Präses.
Man müsse aber auch sehen, dass es nach wie vor Erwartungen an die Kirche gebe, "die wir nicht klein reden dürfen". "Es gehe nicht nur darum, den Kampf zu führen, dass wir wieder mehr werden", sagte Kurschus und hob unter anderem heraus, dass die Kirchen als Stärkerinnen der Demokratie eine wichtige zivilgesellschaftliche Rolle spielten. Die Menschen erwarteten von der Kirche religiöse Kommunikation, aber auch Einsatz etwa für Flüchtlinge oder gegen den Klimawandel. Eine Aufgabe der Kirche sieht sie darin, angesichts der Entwicklung die Hoffnung zu behalten. Sie sei "der Motor aller Prozesse".
Katholische Kirchenmitglieder verlassen ihre Kirche aus Wut, evangelische Mitglieder aus Gleichgültigkeit, lautet ein eher trauriges Ergebnis der Untersuchung. Ist aber nicht Gleichgültigkeit schlimmer als Wut? Annette Kurschus: "Gleichgültigkeit ist das Schlimmste, ich finde das ganz schrecklich. Vielleicht waren wir zu profillos. Es enthält die Anforderung an uns als Kirche wieder mehr Flagge zu zeigen und Ecken und Kanten zu offenbaren. Ich denke, wir sind da auf einem guten Weg."
Auf Jesus bezogenes Gottesbild teilt nur ein Drittel
Zwei Drittel der Kirchenmitglieder teilen ein auf Jesus Christus bezogenes Gottesbild nicht oder fühlen sich in so großer Distanz zu dieser Glaubensaussage, dass sie sie nicht ankreuzen. Dieses Ergebnis der 6. KMU kann als Indiz dafür gewertet werden, dass derzeit nicht nur eine Krise der Organisation Kirche zu beobachten ist, sondern der tradierte christliche Gottesglaube selbst in eine Krise geraten ist. Für Volker Jung, Mitglied im Rat der EKD, ein Indiz, dass Kirche insbesondere in Bezug auf die Gottesfrage sensibel bleiben muss: " Wir müssen uns als Kirche immer wieder darauf einlassen, um das Gottverständnis zu ringen, dazu müssen wir mit Menschen in ein Gespräch kommen."
592 Fragen, 3 Millionen Daten
Über 3 Millionen Daten konnten durch die Untersuchung neu gewonnen werden. Viel Stoff zum Nachdenken für all die Menschen, die sich in und rund um die Kirche engagieren. Auch für die über 100 Synodalen im Plenum, die im Anschluss noch zwei Impulsvorträge dazu hörten.
"Empowermentsensibel das Evangelium kommunizieren", unter diesem Schlagwort brachte Michael Domsgen, Professor an der Theologischen Fakultät der Universität Halle, seine Gedanken auf der Tagung zum Ausdruck. Aus seiner Sicht ziele Empowerment auf Lebenshilfe, die Menschen befähige, ihren eigenen Kräften zu vertrauen und ihr Leben selbstständig zu gestalten. "Es geht darum, neu danach zu fragen, wie es in der Kirche um Benachteiligte steht, also beispielsweise um diejenigen Gruppen, die in den Empowermentdiskursen ihre Stimme finden.", sagte Domsgen am Rednerpult. Dabei zeigte er sich skeptisch, wenn Kirche sagen würde, was Menschen brauchen, "ohne Dialog werden wir das nicht erfahren."
Kirche als glaubwürdiger Ort
In den Fokus des zweiten Impulsvortrags stellte Christian Oelschläger, Professor für Diakoniewissenschaft mit dem Schwerpunkt Systematische Theologie/ Ethik an der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld, die Gottesschaft, "die sich im helfenden Tun zeige". Helfen sei zwar kein Alleinstellungsmerkmal für die Kirche, aber eindeutig ein sichtbares Merkmal. Wie kann es Kirche gelingen, als glaubwürdiger Ort gesehen zu werden, an dem sich Menschen gegenseitig beistehen? So eine seiner Fragestellungen. In der anschließenden Debatte brachten einige Synodalen ihre Gedanken dazu zum Ausdruck. "Müssen wir Menschen überhaupt empowern?", fragte Heike Springhart, Landesbischöfin der Evangelischen Kirche in Baden. Für sie hätten Menschen "genug eigene Kompetenzen und letztendlich sei es für sie eher die Aufgabe, Strukturen zu ändern."
Für Schwester Nicole dagegen sei es an der Zeit, sich bei Machtstrukturen und Exklusion "selbstkritisch an die Nase zu fassen". "Entscheidende Gespräche für Menschen finden häufig nicht mehr in der Kirche, sondern auf ihrem Vorhof Platz." Mentale Barrieren zwischen Diakonie und Kirche abbauen, Streitkultur der Kirche verstärkt wiederbeleben, mehr vernetzte Kommunikation zwischen Landeskirche und EKD oder das Voranbringen digitaler Angebote waren Schlagworte in Wortmeldungen weiterer Synodaler.
Die EKD lässt seit 1972 im Zeitraum von jeweils zehn Jahren untersuchen, wie Kirchenmitglieder über die Institution denken und wie religiös sie sind. In diesem Jahr wurde die Befragung auf die Gesamtbevölkerung ausgeweitet und die katholische Kirche hat sich erstmals beteiligt. Das Meinungsforschungsinstitut Forsa hat zwischen Oktober und Dezember 2022 insgesamt 5.282 Personen befragt.
Auch der Mainzer katholische Bischof Peter Kohlgraf hat sich zur KMU geäußert und sie als "ehrliche Bestandsaufnahme der kirchlichen Situation" bezeichnet. Nun sei ein "offener Diskurs" über die Bedeutung der Ergebnisse nötig, sagte Kohlgraf, der Vorsitzender der Pastoralkommission der katholischen Deutschen Bischofskonferenz ist, am Dienstag in einem Online-Pressegespräch. Allerdings dürfe man die christlichen Kernbotschaften nicht von Mehrheiten abhängig machen.
Bischofskonferenz zum ersten Mal an Studie beteiligt
Zum ersten Mal hatte die katholische Deutsche Bischofskonferenz sich an der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) beteiligt, die am Dienstag in Ulm auf der EKD-Synode vorgestellt wurde. Die EKD führt seit 1972 alle zehn Jahre diese breit angelegte Untersuchung durch, um die evangelische Kirche aus der Sicht ihrer Mitglieder zu erforschen und ein möglichst umfassendes Bild kirchlicher Wirklichkeit zu erhalten.
Die Studie zeige ein "ungeschminktes und sehr facettenreiches Bild der aktuellen Lage von Religion und Kirche in Deutschland", fügte Bischof Kohlgraf hinzu: "Sie liefert uns die häufig beschworenen 'Zeichen der Zeit', die es im Lichte des Evangeliums zu deuten gilt." Wichtig sei, dass in den Daten noch nicht ihre Interpretation liege, "ebenso wenig die daraus zu ziehenden Handlungskonsequenzen".
Tobias Kläden, Koordinator für die katholische Beteiligung an der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, bezeichnete die Ergebnisse der Studie als "ernüchternd". Dennoch gehe aus dieser hervor, dass die Erwartung der Menschen an die Kirchen nach wie vor hoch sei. Es zeige sich zudem, dass die Unterschiede zwischen evangelischer und katholischer Kirche in der Wahrnehmung geringer würden, sagte der Referent für Evangelisierung und Gesellschaft sowie stellvertretender Leiter der Katholischen Arbeitsstelle für missionarische Pastoral der Deutschen Bischofskonferenz (KAMP).
Die katholische Beteiligung an der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung erstreckt sich den Angaben zufolge wesentlich auf die Mitwirkung katholischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im KMU-Beirat. Die Gesamtkoordination liege bei der EKD, so die Bischofskonferenz.