Am Wochenende wurde in München eine gegen die strengen Corona-Regeln gerichtete Demo der "Querdenker" spontan zu einem Gottesdienst umfunktioniert, offenbar unter anderem, um Teilnehmerbeschränkungen zu entgehen. Ist das rechtlich überhaupt möglich?
Hans Michael Heinig: Die bloße Behauptung, eine Versammlung sei ein Gottesdienst, reicht nicht aus. Ein solcher Anspruch muss hinreichend plausibilisiert werden. Richtig ist aber auch, dass es bei Hybridformaten wie in München, teils Demo, teils Konzert, teils aber auch durch religiöse Sprache und Formen geprägt, zu schwierigen Abgrenzungsfragen kommt. Gleichwohl sollte man jetzt in der Reaktion auf München nicht übertreiben. Wer aus dem Missbrauch eines Freiheitsrechts sofort ableitet, dass das Freiheitsrecht gestrichen werden soll, agiert populistisch und illiberal. Insoweit verwundern mich manche Reaktionen auf diese Münchner Veranstaltung.
In der Debatte um die neuen Corona-Beschränkungen werden zunehmend Stimmen laut, die von Unfairness und Willkür sprechen. Es wird beklagt, dass Gottesdienste mit den bekannten Einschränkungen stattfinden dürfen, Theater und Konzerthäuser aber geschlossen bleiben müssen. Ist diese Kritik aus Ihrer Sicht berechtigt?
Heinig: Angesprochen ist damit, wie die "Lasten", die die nun angestrebten tiefgreifenden Kontaktbeschränkungen mit sich bringen, verteilt werden und welche Rolle hier die organisierte Religion einnimmt. Von Kritikern der jetzigen Verordnungen wird der "Kulturbetrieb" mit den religiösen Veranstaltungen der Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften verglichen und eine Ungleichbehandlung beklagt. Rechtlich dringt man damit meines Erachtens nicht durch. Denn es geht um ein infektionsschutzrechtliches Gesamtkonzept, das momentan verfolgt wird. Hierbei muss dem Gesetzgeber ein gewisser Spielraum eingeräumt werden, in welchen Lebensbereichen Kontakte noch erlaubt werden und wo Einschnitte nötig sind.
Das sind politische Entscheidungen, die demokratisch legitimiert sein müssen, aber sich einer superfein justierten Gleichheitsprüfung entziehen. Es greift gleichheitsrechtlich das Willkürverbot - und das ist hier meines Erachtens nicht verletzt. Die Rechtsordnung behandelt auch sonst Religion anders als Kunst. Freilich bröckelt der rechtskulturelle Konsens, dass Religion etwas Besonderes ist. Und freiheitsrechtlich genießt Kunst einen ebenso intensiven Grundrechtsschutz wie Religion.
"Nächstenliebe verlangt Kontaktreduktion"
Auch wenn es aus rechtlicher Sicht in Ordnung ist, das Gefühl einer Ungleichbehandlung bleibt, oder?
Heinig: Gesellschaftspolitisch verstehe ich einen gewissen Unmut. Gottesdienste und viele andere Veranstaltungen, auch kirchliche Gremiensitzungen, sind kontaktintensiver als ein Museumsbesuch. Auf die kirchlichen Hygienekonzepte kann man nicht verweisen, um dem Vorwurf der unberechtigten Privilegierung zu begegnen. Die hatten ja auch Theater, Opern und Museen vorzuweisen.
Dennoch dürfen Gottesdienste stattfinden, und Theater und Museen bleiben geschlossen. Warum hat die Politik das so geregelt?
Heinig: Mein Eindruck ist, dass die Politik sensibel wahrgenommen hat, wie viel Kritik die Kirchen im Frühjahr einstecken mussten, weil sie die damaligen Gottesdienstverbote hingenommen haben. Die daraus resultierenden Verwerfungen wollte man den Kirchen diesmal ersparen. Darauf resultieren nun neue gesellschaftlichen Konflikte. Aus dem Entgegenkommen erwächst große Verantwortung: Der drohende Zusammenbruch des Gesundheitssystems, die drohende harte Triage betreffen ja auch kirchliche Einrichtungen. Pathetisch gesprochen: Nächstenliebe verlangt momentan wieder wie im Frühjahr Kontaktreduktion. Alle gesellschaftlichen Bereiche sollten dazu ihren Beitrag leisten, auch die Kirchen.
Wie sollen die Kirchen und Religionsgemeinschaften mit diesen relativen Freiheiten umgehen?
Heinig: Es wäre ein schwerer politischer Fehler, jetzt seitens der Religionsgemeinschaften den Rechtsrahmen einfach auszuschöpfen und möglichst viele Veranstaltungen durchzuführen, weil sie ja nicht verboten sind. Wenn Religionsgemeinschaften ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden wollen, müssen sie sich freiwillig radikal begrenzen: auf Seelsorge, auf kleine und kurze geistliche Angebote, auf digitale Formate, auf den Schutz und die Begleitung der besonders Verletzlichen.