Wandel und Veränderung machen auch vor der evangelischen Kirche nicht halt. Man kann den Kopf in den Sand stecken und tatenlos dabei zusehen – oder man kann sich der Herausforderung stellen und die Veränderungen selbst gestalten. Pfarrerin Sandra Bils, die noch bis Ende des Jahres im Haus kirchlicher Dienste der hannoverschen Landeskirche für das Projekt "Kirche ²" zuständig ist, kann durchaus als eine Freundin von innovativen, modernen Gemeindeformen und –ansprachen angesehen werden. Und das nicht erst, seit sie in ihrer Predigt beim Abschlussgottesdienst des Kirchentags mit ihren Aussprüchen über "Gottes geliebte Gurkentruppe" und "Glaube. Liebe. Currywurst." für Aufsehen gesorgt hat.
Sandra Bils nimmt die Besucher des CVJM-Studientags im übertragenen Sinne mit ins finnische Helsinki. Dort steht mit "Oodi" eine Bibliothek, die so viel mehr ist als ein Ort, an dem Bücher aufbewahrt werden – es ist ein Lieblingsort der Menschen geworden. Denn bei der Planung hat man nicht gefragt, was eine Bibliothek bisher faktisch ist, sondern was sie für die Nutzerinnen und Nutzer sein kann. Und das ist etwas, was Kirchengemeinden aus Bils‘ Erfahrung heraus viel zu selten bedenken würden. Oder um es mit dem Unternehmensberater Simon Sinek zu halten: "Frag immer erst: Warum".
Innovation ist dringend nötig
Sandra Bils bezieht die drei Fragen von Sineks berühmtem "goldenem Kreis" auf die Kirche. Sprachfähig für das "Was?" zu sein, fällt vielen leicht. Was ist Kirche? Da kommen Antworten wie Gottesdienst und Konfi-Arbeit – es sind vertraute Formate. Die Frage nach dem "Wie ist Kirche?" lässt schon mehr Menschen verstummen. Es klingt nach Orgelmusik, riecht muffig und schmeckt nach Kondensmilch – diese Assoziationen kommen. Beim "Wie?" geht es Sinek um Atmosphäre, Tonalität und Haltung. Und beim "Warum"? "Wir machen uns viel zu selten Gedanken darum, was unsere Aufgabe und was unsere Mission ist. Und verwechseln dann gerne das 'Warum?' mit dem 'Was?'", sagt Bils. Und das sei schade, weil Kirche so viel mehr könne. Sie berichtet von ihren Erfahrungen in Gemeinden, wo das Nachdenken über das eigene Leitbild eher als nettes Add-On gesehen wird, um das man sich kümmern kann, wenn mal Zeit ist, und nicht als integraler Bestandteil der Arbeit.
Als Gemeinde dürfe man nicht die Menschen aus dem Blick verlieren – etwas, was derzeit vielerorts geschehe. Der Wandel der Gesellschaft spiegle sich in den Kirchengemeinden nicht wieder. Und manchmal, so Sandra Bils, habe sie auch das Gefühl, als seien diese Menschen der veränderten Gesellschaft auch gar nicht in den Gemeinden willkommen. Innovation sei hier nötig – sowohl inkrementelle, das bedeutet schrittweise, als auch radikale. Was die beiden unterscheidet, erklärt Bils anhand eines Beispiels: "Bei der ersten Variante sieht die Gemeinde, dass die Menschen nicht mehr in den Gottesdienst kommen, sondern lieber brunchen gehen. Als Reaktion darauf bieten sie jetzt nach dem Gottesdienst Brunch an." Eine radikale Innovation sei es in diesem Beispiel, als Kirche ein Café zu eröffnen, in dem Brunch angeboten werde. "Es ist nie Tradition versus Innovation. Wir brauchen immer beides", stellt Bils klar. "Ich will keine Grabenkämpfe und auch kein Traditionsbashing oder Innovation nur um der Innovation Willen." Die Kirche habe tiefe Wurzeln in der Tradition, und das sei auch gut so. Man müsse nur zwischen sinnvollen Traditionen, die sprachfähig in Bezug auf das "Warum" sind, und liebgewonnener Folklore unterscheiden.
Wenn eine Gemeinde sich ändern wolle, müsse sie darauf achten, wie sie es tut. Kommunikation auf Augenhöhe sei dabei wichtig. Und Augenhöhe bedeute nicht, dass Kirche so weit über allen stünde und sich hinunterbeugen müsste. Stattdessen müsse man sich fragen: Kann ich etwas von den Menschen lernen?
Die Situation vor Ort entscheidet
Es brauche einen Haltungswechsel. "Wir sollten da anfangen, wo wir sind, unsere eigenen Begabungen einsetzen und mal nicht fragen, was wir für andere anbieten können, sondern das tun, was uns selbst begeistert", schlägt Sandra Bils vor. Viel zu oft fände man Antworten auf Fragen, die einen gar nicht weiterbrächten. Stattdessen müsse man lernen, die richtigen Fragen zu stellen. Und die zu finden, hänge immer von der Gemeinde vor Ort ab, denn was in der einer Gemeinde funktioniert, könne in der anderen grandios scheitern – eben weil man nicht die Bedürfnisse der Menschen vor Ort im Blick gehabt habe. "Wenn wir als Kirche bei allem, was wir tun, immer auskunftsfähig über das 'Warum' sind, dann können wir auch der Transformation innerhalb der Kirche und Gesellschaft begegnen", sagt Bils.
Über die "große Transformation" hat sich auch Uwe Schneidewind schon viele Gedanken gemacht. "Wir möchten in jedem einzelnen den Zukunftskünstler wecken", sagt der Mann, der gemäß der FAZ einer der hundert einflussreichsten Ökonomen in Deutschland ist. "Zukunftskunst", das meint laut Schneidewind die Fähigkeit, kulturellen Wandel, kluge Politik, neues Wirtschaften und innovative Technologien miteinander zu verbinden. "Zukunftskünstler nehmen das übermächtige Programm der Gestaltung von Gesellschaft, Politik und eigenem Leben nicht als erdrückend wahr,", beschreibt Scheidewind, "sondern sind getragen von der tieferen inneren Freude, selbst das härteste Material – in diesem Fall die Gesellschaft – so zu formen, wie sie es in ihrer Vision sehen."
"Geht raus, ihr werdet gebraucht!"
Die Zivilisationsvision, von der Schneidewind als Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie spricht, lässt sich leicht auf den Punkt bringen: "Jeder Mensch soll unabhängig davon, wo er lebt oder wann er geboren wird, die Chance auf ein würdevolles Leben haben." Aus rein wirtschaftlicher Sicht sei das machbar, im Augenblick gehe es eher um den Willen, diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen. "Wir haben auf der einen Seite Menschen, die diese Vision aufgeben wollen, um die eigene Volksgemeinschaft zu schützen", erklärt er. Und auf der anderen Seite stünden Menschen, deren moralischer Kompass das Aufgeben dieser Vision nicht zulasse. "Diese Leute wollen die Gesellschaft und Wirtschaft weiterentwickeln, damit die Welt sich so verändert."
Aber was kann die Kirche dazu beitragen, was alle anderen nicht können? Uwe Schneidewind, selbst Vorsitzender der EKD-Kammer für nachhaltige Entwicklung und Mitglied im Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags, ist der Ansicht, dass der Hoffnungsbegriff in der aktuellen Debatte zu kurz greife und nur auf äußere Erfolge setze. Das könne schnell dazu führen, dass Menschen frustriert seien. Dagegen sei der theologische Hoffnungsbegriff viel weiter gefasst und so ein Geschenk. "Ich habe nicht die Sicherheit, dass etwas gut ausgeht, aber die innere Gewissheit, dass da etwas ist, das viel größer ist als ich selbst und für das es sich zu kämpfen lohnt." Diese Überzeugung entfache ein inneres Feuer, das unabhängig von einzelnen Rückschlägen Kraft spende. Die Rolle der Kirche und des Glaubens sei zu wichtig, als dass man so viel Energie wie bisher in interne Debatten stecke. Stattdessen forderte Schneidewind: "Geht raus! Ihr werdet dort draußen gebraucht!"
Auch für den EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm spielt die Kirche, in deren DNA Hoffnung ein fester Bestandteil sei, eine wichtige Rolle in den Veränderungsprozessen. Schon seit den 70er Jahren beschäftigen ökologische Themen die Kirchenarbeit, viele Gemeinden leisten vor Ort im Kleinen ihren Teil.
Kirche als Change Agent
Es stimmt den Ratsvorsitzenden nachdenklich, dass dieses Engagement der Kirchen als Change Agent nicht wahrgenommen worden sei und manchmal immer noch nicht so richtig wahrgenommen werde. Diese mangelnde Wahrnehmung dürfe aber nicht dazu führen, sich "auf das vermeintlich "Eigene" zurückzuziehen und eine aktive Rolle der Kirchen in der Zivilgesellschaft als etwas ihnen Fremdes" anzusehen und es deswegen zurückdrängen.
Auf die Frage, ob solches zivilgesellschaftliches Engagement wirklich die Aufgabe der Kirche sei, antwortet Bedford-Strohm: "Wenn wir das Doppelgebot der Liebe ernst nehmen wollen und wir sehen, dass die Not des Nächsten durch politische Entscheidungen verursacht ist – ja, wie könnte ich denn anders, als mich einzumischen."
Der EKD-Ratsvorsitzende sieht die Kirche als den stärksten Change Agent, den sich die Gesellschaft wünschen kann, weil sie den Menschen Hoffnung gibt. Und fordert alle Menschen auf, die Hoffnungsgeschichten der Bibel weiterzutragen, die sich unter anderem in der Schöpfungsgeschichte, bei Mose, dem babylonischen Exil und schließlich auch Jesu Auferstehung finden lassen. Das sei wichtig, weil in unserer heutigen Welt Hoffnung die vielleicht knappste Ressource sei. Und deswegen fordert Bedford-Strohm in Anlehnung an das Bonhoeffer-Zitat, dass Kirche nur Kirche sei, wenn sie für andere da sei, von der Kirche etwas ganz Entscheidendes: "Kirche ist nur Kirche, wenn sie Hoffnung ausstrahlt." Und er fordert Mut von den Menschen. Den Mut, grenzenlos zu hoffen.