"Carpe diem" steht seit ein paar Tagen auf Helmut Balzers Arm: Nutze den Tag! Der 60-Jährige hat gerade etwas Zeit zum Durchatmen - und sich kurzentschlossen tätowieren lassen. Neben seinem Job in der geriatrischen Station eines Krankenhauses pflegt er seine Frau. Nun ist sie für drei Wochen in Kurzzeitpflege in einer Pflegeeinrichtung in Frankfurt. Die Diagnose Alzheimer kam vor etwa drei Jahren.
Mittlerweile hat Balzer seine Arbeitszeit auf 80 Prozent reduziert. Vor Dienstbeginn und nach Feierabend kümmert sich der 60-Jährige um seine Frau, regelt die Pflegebürokratie, fährt zu Ärzten, organisiert die Betreuung. "Manchmal braucht man etwas Abstand, um wieder neue Kraft zu schöpfen", sagt Balzer. Anfangs sei er noch etwas unruhig gewesen, nachdem er seine Frau in die Pflegeeinrichtung gebracht hatte. "Da stellt man sich schon die Frage: Geht es ihr dort gut?" Als er merkte, dass sie sich gut eingefunden hatte, sei er ruhiger geworden.
Hilflosigkeit, Wut, Unzufriedenheit und Überforderung
"Pflegende Angehörige sind häufig einem enormen Druck ausgesetzt", erzählt Helmut Täuber, stellvertretender Geschäftsführer der Diakoniestation Frankfurt, der seit mehr als 15 Jahren in der Pflegeberatung arbeitet. Dazu kämen für Betroffene auch finanzielle Sorgen, etwa um die eigene Altersversorgung oder die Finanzierung einer stationären Pflege. Zudem hätten die Pflegenden häufig das Gefühl, zu wenig zu tun. Aber Hilflosigkeit, Wut, Unzufriedenheit und Überforderung angesichts der körperlichen oder psychischen Veränderung eines geliebten Menschen seien ganz normal.
"Angehörige werden damit aber häufig alleingelassen", kritisiert Täuber. In Sachen Pflege gebe es viele Beratungsangebote. Hilfe beim Umgang mit der psychischen Belastung seien hingegen seltener.
Balzer hat deswegen gerade eine Therapie begonnen. Auch er sei schon bei der Arbeit zusammengebrochen, sei verzweifelt gewesen ob der Belastung. Sich selbst einzugestehen, dass man psychologische Hilfe brauche und seinen Arzt aktiv darum zu bitten, das schaffe allerdings nicht jeder, sagt Täuber. Bezahlte Leistungen für die psychische Gesundheit pflegender Angehöriger würden aus seiner Sicht helfen.
Die Pflege durch Angehörige ist kein Ausnahmefall. Die aktuelle Pflegestatistik des Statistischen Bundesamtes zeigt: Mehr als zwei Millionen Pflegebedürftige werden zu Hause versorgt, knapp 1,4 Millionen davon von Angehörigen, meist Frauen. Das macht etwa die Hälfte aller Pflegefälle in Deutschland aus. In Pflegeinrichtungen leben rund 780.000 Menschen.
Auch das Gesetz legt den Fokus klar auf die Angehörigen. In Paragraf 3 des Sozialgesetzbuchs XI heißt es, die Pflegeversicherung solle vor allem die "häusliche Pflege und die Pflegebereitschaft der Angehörigen und Nachbarn unterstützen".
Was für Balzer jeden Tag aufs Neue eine Herausforderung ist, belegt auch eine Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung: Die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege ist in Deutschland ziemlich schwierig. Verschiedene Ziele kommen sich in die Quere. Neben den Anforderungen, die das Pflegesystem an Angehörige stellt, werde beispielsweise auch eine hohe Erwerbsquote erwartet. Alles gleichzeitig zu verwirklichen, sei jedoch schwierig.
In Schweden, das immer wieder als Vorbild genannt wird, ist das Pflegesystem vor allem durch die Kommunen organisiert und aus Steuern finanziert. Auch die häusliche Pflege liegt dort in staatlicher Verantwortung. Gemessen am Bruttosozialprodukt sind die Ausgaben für die öffentliche Pflege in Schweden deshalb etwa dreimal so hoch. Dafür machen die privaten Kosten nur wenig aus.
Setzt Deutschland also zu sehr darauf, dass Angehörige sich in der Pflege aufopfern? Balzer jedenfalls würde mehr Unterstützung begrüßen. Und damit ist er nicht alleine: Laut dem aktuellen DAK-Pflegereport wünschen sich das auch neun von zehn Angehörigen.
Balzer will seine Frau trotz allem weiter zu Hause pflegen. Sein Sohn und dessen Freundin helfen. Seine Frau in ein Heim "abzuschieben", wie er es formuliert, komme nicht infrage. Zur Not müsse er seine Arbeitszeit weiter reduzieren oder früher in Rente gehen. Finanziell werde es dann knapp, sagt er, "aber wir kommen schon irgendwie zurecht".