Herr Frings, Sie haben 2010 als Pfarrer in Münster aus der alten Kirche die Bänke entfernt und halten Gottesdienst in der Kneipe. Warum haben Sie angefangen mit solchen Aktionen?
Thomas Frings: Weil sich das Bild von der Kirche in den Köpfen der Menschen verändern sollte: Die Kirche wurde anschließend als bunt, jung und dynamisch wahrgenommen. 2010 haben wir diese Aktion gemacht und alle Bänke aus der Kirche in Münster entfernt. Es kamen Leute, die vorher die Kirche nicht betreten haben. Entscheidend ist, ob jemand sich angesprochen fühlt. Und dafür müssen wir versuchen, die Kirche so darzustellen, dass die Leute auch tatsächlich kommen.
Wann kommen neue Leute heute in die Kirche?
Frings: Dann, wenn der Glaube in dieser Kirche lebensdienlich ist. Dann, wenn ich das, was ich am Sonntag höre, am Montag anwenden kann. Man merkt, dass Emotionalisierung und Visualisierung heute sehr wichtig sind. Dabei zieht dies die Leute an, wenn wir dem Ort Kirche eine andere Aura verleihen. Wir mussten zum Beispiel von unseren beiden Kirchen eine Kirche schließen und wir haben von den ursprünglich vier Gottesdiensten zwei gestrichen. Doch dann haben wir die zwei Gottesdienste gut gestaltet: eine hervorragende Kirchenmusikerin hat bei uns eine wichtige Rolle dabei gespielt. Wenn zehn Messdiener, Lektoren, Kommunionhelfer, Diakon und Priester einziehen, dann ist das einfach ein guter Auftakt. Wenn Sie in die Kirche kommen und Sie sehen: Hier sind schon über fünfzig Prozent der Stühle besetzt, wie reagieren Sie dann? Sie sagen sich: "Da kann ich mich nur dazu setzen!" Welches Gefühl wird ihnen vermittelt, wenn auf 300 Plätzen 20 Personen sitzen? Wenn die anderen schon alle weg sind, dann wird es sich wohl auch nicht lohnen!
Was sind die Ansprüche der Gemeindemitglieder heute?
Frings: Dass nicht andere das machen, was ich selber tun kann! Sondern, dass ich das selber mache. Dass ich mitsinge, ist dabei nur eine Sache. Aber es gehört noch mehr dazu: es muss was mit meinem Leben zu tun haben! Die Leute in der Kirche sagen heute: "Ich will nicht nur konsumieren, sondern selber was einbringen! Ich will mich angesprochen fühlen!" Dazu muss man im Gottesdienst die Kommunikation ganz neu gestalten. Ein Beispiel: Wir haben im Gottesdienst an wenigstens drei Stellen eine Stille eingeführt: nach der Epistel, nach dem Evangelium und nach der Kommunion. Denn die Leute sollen über Gottes Wort eher nachdenken als über das, was der Priester in der Predigt darüber sagt.
Damit stimmen Sie voll überein mit Martin Luther!
Frings: Das kann sein. Dennoch ist eine Predigt natürlich wichtig. Leider erlebe ich viele Predigten als fromm, aber nicht nahe bei den Menschen!
"Wenn wir die Fragen der Menschen nicht kennen, dann bringen die Antworten nichts"
Wie predigen Sie nahe bei den Menschen?
Frings: Ich spreche direkt mit den Menschen: Während ich predige, stelle ich ihnen genaue Fragen. Zum Beispiel letzten Sonntag: da habe ich gepredigt über die wundersame Brotvermehrung: Die Menschen folgen Jesus an den See Tiberias. Aber Jesus zieht sich zurück. Johannes verweist auf das Passahmahl und greift die Worte aus der Messe auf: "Er nahm das Brot, brach es und verteilte es." Johannes baut also eine Brücke zwischen Brotvermehrung, Passah und Abendmahl. Am Ende der Predigt habe ich die Gemeinde gefragt: "Was denken Menschen wohl, die das Wunder erlebt haben, die satt geworden sind ohne etwas dafür zu tun? Sie wollen sich dieses Wundertäters bemächtigen! Aber Jesus will nicht der Versorger sein, sondern der Erlöser. Er will das Brot sein und nicht nur Brot geben." Dann zeigte eine Frau auf und fragte: "Wenn der Junge anfängt, Brot auszuteilen, und die anderen es dann nachmachen, und darum alle satt werden: ist das dann nicht das eigentliche Wunder?" Leider passiert das viel zu selten, dass die Gottesdienstbesucher sich aktiv melden.
Wie hat sich Ihre Gemeinde altersmäßig entwickelt?
Frings: Wir haben einen Altersdurchschnitt von unter fünfzig Jahren bei den Gottesdienstbesuchern. Von 2009 bis 2016 haben wir außerdem einen Zuwachs von dreißig Prozent erlebt! Das war das Ergebnis des ganzen Teams und der Gremien und das wurde auch von außen sehr stark wahrgenommen.
Wer äußert sich heute in der Kirche und bei welchem Anlass? Was schlagen die Leute vor?
Frings: Das kann man nicht verallgemeinern. Es gibt den schönen Satz von Thomas von Aquin: "Wo nicht die Frage des Menschen, da ist nicht die Antwort des Heiligen Geistes." Die Kirche hat Antworten auf Fragen, die nicht die tatsächlichen Fragen der Menschen sind. Wenn wir die Fragen der Menschen nicht kennen, oder die Menschen vielleicht gar keine Fragen an uns, an Kirche, an Gott haben, dann bringen die Antworten nichts, nicht mal die des Heiligen Geistes. Wenn die Frage des Menschen nicht da ist, dann hilft auch beste Methode nichts, um Leute zu erreichen oder gar zu gewinnen. Können wir akzeptieren, dass Menschen gut ohne uns und ohne Gott leben können?
Was zieht die Leute in die Kirche?
Frings: Ich denke schon, dass das Gefühl eine wichtige Rolle spielt. In welchen Kirchen gibt es denn heute den größten Zuwachs? In den Freikirchen! Denn in den Freikirchen sind die Leute mit beteiligt und sie finden dort etwas, das sich mit ihrem Leben verbindet! Die klösterlichen Gemeinschaften und Wallfahrtsorte sind ebenfalls Orte mit Zuspruch.
Was für eine Erfahrung haben Sie mit Emotionalisierung gemacht?
Frings: Ein gutes Beispiel ist unsere Aktion von 2010: als wir in Münster die Bänke aus der Kirche für drei Wochen entfernt haben. Der erste Preis eines Wettbewerbes in Zusammenarbeit mit der Kunstakademie war der Vorschlag einer jungen, ungetauften Studentin, die Bänke zu entfernen. Sie fand unseren Raum großartig, aber wer zu uns komme, der müsse immer in Reih und Glied sitzen. Eine typische Kirchenreaktion nach alter Schule wäre gewesen: die Bänke zu ersetzen durch einen Stuhlkreis. Aber das war nicht, was die Studentin wollte. Sie wollte die Menschen motivieren, ihre eigenen Stühle in die Kirche zu bringen! Das haben wir ausprobiert: und das war ein echter Burner! Die Leute haben hunderte Sessel und Stühle geschleppt! Mehr Menschen hatten mehr Lust am Gottesdienst bekommen und ihre Beteiligung am Gottesdienst durch das Sesseltragen selbst gespürt! Plötzlich war unser Gottesdienst bunt! Nicht nur durch die bunten Stühle, sondern durch die andere Form, in der wir denselben Gottesdienst wie vorher gefeiert haben. Am Inhalt hat sich nichts geändert, aber die andere Form hat uns, die Menschen verändert.
Wie muss man so etwas in der Gemeinde organisieren, damit es klappt? Wussten die Leute vorher: nächsten Sonntag müssen wir zum Gottesdienst selber Sessel mitbringen?
Frings: Man darf die Leute nicht ins Messer laufen lassen, sondern muss sie mitnehmen, informieren, einbinden in Entscheidungen. Dann klappt das meist ganz gut. Auch die älteren Leute haben Stühle gebracht. Das war überhaupt kein Problem! Die Älteren haben sogar gesagt: "So mit unseren eigenen Sesseln ist es gut in der Kirche. Kann das nicht so bleiben!" Das haben wir dann drei Wochen gemacht. Ich erinnere mich: Wir hatten dreihundert bis vierhundert Stühle in der Kirche. Das heißt: es sind auch dreihundert bis vierhundert Menschen in unseren Gottesdienst gekommen. Zum Vergleich: vorher hatten wir nur 280 Sitzplätze in den Bänken. Und die waren nicht immer alle besetzt gewesen. Natürlich gab es auch Kritik, ob das denn Glaubensverkündigung sei. Wir sollten besser Glaubenskurse anbieten. Allerdings kommen zu unseren Kursen meist nur die Leute, die ohnehin schon alles glauben. So haben wir Menschen erreicht, die vorher weit weg von Kirche waren. Wir hatten übrigens auch nie Probleme, Menschen für unsere Gremien zu gewinnen. Die an sich oberflächliche Aktion mit den Stühlen hatte einen lange nachwirkenden Effekt für die Gemeinde, den Gottesdienst und die Verkündigung. Wer hätte das gedacht. Ich nicht.
Was reizt die Leute heute, in den Gremien der Kirche mitzuarbeiten?
Frings: Es sind vor allem zwei Fragen: Sitzen wir nur zusammen und reden, oder gibt es 1. Ergebnisse und begegnen wir uns 2. auch menschlich? Ein Beispiel konkreter Arbeit: Fronleichnam funktionierte in der traditionellen Form überhaupt nicht mehr. Wie können wir die Idee so umsetzen, dass sie die Menschen verstehen. Also haben wir in der Kirche eine neue Form der Prozession gestaltet und anschließend um die Kirche ein Brunch für alle Menschen, zu dem jeder etwas mitbrachte. Das kam an und die Menschen sind gerne an dem Tag gekommen und sind lange geblieben.
"Ich glaube, dass es oft am echten Willen scheitert, dass sich was ändert"
Wie wollen die Gemeindeglieder die Gremiensitzung haben?
Frings: Die Sitzung muss zeitlich begrenzt sein. Sie muss so sein, dass man sich danach noch auf ein Bier zusammen setzt. Sie muss ein Ergebnis bringen. Die Gemeindemitglieder wollen, dass nicht nur rumgelabert wird. Auch eine Sitzung wie überhaupt die Mitarbeit in der Kirche muss Freude machen. Freude an dem, was wir machen, ist auch in der Kirche ein überzeugendes Argument und ich denke, es ist der Wille Gottes, dass wir uns freuen!
Welche strukturellen Möglichkeiten haben Pfarrer, Kirchenvorstände oder Pfarrgemeinderäte, um zeitnah auf solche Vorschläge zu reagieren und die Kirche an neue Entwicklungen anzupassen?
Frings: Die Verantwortlichen haben eigentlich nur eine Vorgabe: Sie müssen schlicht wollen! Ich glaube, dass es oft am echten Willen scheitert, dass sich was ändert. Ein Beispiel: wir hatten siebzig Jahre lang zu Weihnachten die gleiche Krippe stehen. Nun hat Playmobil alles, was man für eine Krippe braucht: Jesus, die Hirten und die drei Könige, Maria und Joseph. Zwei Sitzungen haben wir darüber diskutiert, ob wir einmal eine andere Krippe, eine aus Playmobil für die Kinder bauen.
Was sind da die überzeugenden Argumente?
Frings: Die Idee hat in den Gremien eine knappe Mehrheit gefunden. Einige haben die Vorgabe okay gefunden und gesagt: "Vielleicht blamieren wir uns gerade dann mehr, wenn wir nicht bereit sind, Neues auszuprobieren!" Einige waren dafür, aber es gab auch welche, die konnten sich eine Veränderung eben gar nicht vorstellen. Die Kinder haben ihr Playmobil ausgeliehen und aus über 1000 Figuren wurde eine große Landschaft gebaut, in die die Geburt Jesu sich einfügte. Und die Kirche wurde gestürmt von den Menschen! Schließlich haben wir eine Art Pixi-Buch daraus gemacht und in vierzehn Tagen haben wir das Buch zweitausendmal verkauft mit 700 Euro Reingewinn. Eigentlich eine Lappalie, aber in Kirche etwas zu verändern, und sei es nur für ein Mal, das ist schwer, zumindest in den meisten Gemeinden.
Wie entwickelt sich heute die Gemeindestruktur?
Frings: Strukturen wollen sich nicht verändern! Gerade das ist ja ihre Stärke und gleichzeitig unser Problem! Aufbruch gibt es daher fast nur außerhalb von Strukturen. Eigentlich heißt Pfarrei ja übersetzt 'die nicht Sesshaften'. Aber den Eindruck, dass Verwandlung, dass Wandlung unser Ding ist, unsere Stärke, den vermitteln wir doch wohl kaum noch. Es gibt dazu diesen Witz: Frage tausend Katholiken: "Was ist das Wichtigste in der Kirche?" Und sie antworten: "Die Messe!" Frage tausend Katholiken: "Was ist das Wichtigste in der Messe?" Und sie antworten: "Die Wandlung!" Sage tausend Katholiken: "Das Wichtigste ist die Wandlung!" Und sie werden alle widersprechen!
"Wenn ich anderswo sehe, dass etwas gut ist, dann beobachte ich: warum geht es gut?"
Gibt es heute im Gottesdienst mehr Diskussion?
Frings: Wenn ich predige, dann geh ich im Raum hin und her. Ich stelle den Leuten rhetorische Fragen wie: "Sind Sie wirklich der Meinung, dass es so und so ist?" Vor Kurzem mischte sich ein junger Mann mutig in den Gottesdienst ein. Er war geistig nicht ganz auf der Höhe, aber er war nicht gehemmt. In der Predigt fragte er: "Darf ich mal das Mikro haben?" Er stand auf und ergänzte etwas zu meiner Predigt. Ich habe dann gesagt: "Toll, was Sie machen!" und die ganze Kirche klatschte! Viele Gemeindemitglieder haben sich nach dem Gottesdienst gefreut: "Das war ein ganz toller Sonntag!" Warum schaffen wir anderen Menschen das so wenig? Da muss erst ein leicht behinderter Mann kommen und uns aus der Reserve locken an den Stellen, an denen wir die Behinderten sind.
Wie hat sich in den letzten Jahren in der Kirche außerdem die Gesprächskultur geändert?
Frings: Eine Veränderung: Früher trug der Lektor in der Messe alle Fürbitten vor. Dann haben wir die Fürbitten einzeln am Eingang ausgelegt und die Leute nehmen eine, die ihnen zusagt, gehen dann in der Messe nach vorn und tragen ihre gewählte Fürbitte vor.
Wie kommt das an?
Frings: Sehr gut! Wir kommen weg davon, dass einer an der Stelle alles macht für die anderen. Es entsteht Bewegung und Beteiligung. Wir hören verschiedene Stimmen und Menschen kommen nach vorne. Es ist uns in über zwanzig Jahren nur zweimal passiert, dass im Gottesdienst keiner eine Fürbitte genommen hat. Die Gemeindemitglieder tun alles freiwillig.
Hatten Sie ein Aha-Erlebnis, das Ihnen gesagt hat: ich muss auf die Leute zugehen und näher bei den Menschen sein?
Frings: Mein Aha-Erlebnis war: Ich habe amerikanische Prediger gesehen. Ich finde die dort verkündete Theologie oft problematisch, aber ich mag ihre Form zu predigen. Von dieser Form können wir viel lernen: mit den Leuten sprechen, auf die Leute zugehen, ansprechen, was sie bewegt. Wir können viel davon lernen. Der amerikanische Pastor kommuniziert wirklich mit den Leuten, statt über die Köpfe hinweg zu reden. Es ist kein Frage-Antwort-Spiel, wohl aber ein direktes Reden zu den Menschen.
Es sind also heute viele positive Erfahrungen, die Neues in die Kirche bringen?
Frings: Wir haben in der Gemeinde positive Erfahrungen gemacht mit Veränderungen. Wenn eine Sache nicht mehr läuft, dann haben wir uns gefragt warum, was wollen wir und wie können wir das erreichen? Wenn ich anderswo sehe, dass etwas gut ist, dann beobachte ich: warum geht es gut? Im Urlaub erlebe ich oft, wie andere Gottesdienst feiern. Wenn es gut ist, dann überlege ich, was ich davon übernehmen kann und wie es dann an meiner Stelle gelingen kann. Kopieren geht meist nicht, das ist zu einfach.
Welches Ziel oder Ideal könnte die Kirche heute haben?
Frings: Aufbruch! Und ich glaube, dass ein Aufbruch in der vorhandenen Struktur nicht geht und dass in der Kirche die jetzige Struktur nicht mehr zu den Menschen unserer Tage passt. Wenn wir unser Herz an das Evangelium so gehängt hätten, wie wir es an die Struktur gehängt haben, dann hätten wir heute kein Problem mit der Struktur. Das Evangelium hat keine Struktur.