Das überladene und seeuntaugliche Gummiboot beherbergte 60 Frauen und Männer, 9 Kinder und 28 unbegleitete Jugendliche. Um das Leben dieser Menschen zu retten, verteilte das Rettungsteam zunächst Rettungswesten, bevor es die Menschen sicher an Bord der "Sea-Watch 4" brachte. Alle Überlebenden wurden vom Team der "Ärzte ohne Grenzen" und mit Unterstützung des "Protection Teams" von Sea Watch umgehend triagiert. Die Rettung war um 9:30 Uhr Schiffszeit abgeschlossen. Die "Sea-Watch 4" patrouilliert weiter im Suchgebiet vor der libyschen Küste.
Constanze Broelemann, Jahrgang 1978, leitet die Graubündner Redaktion der evangelisch-reformierten Zeitung in Chur. Die Zeitung "reformiert" ist die auflagenstärkste evangelische Zeitung in der Schweiz. Außerdem arbeitet sie in Teilzeit im Pfarramt in der Schweiz und macht schwerpunktmäßig Konfirmandenarbeit.
Zum jüngsten Einsatz: Kaum lag die erste Rettung hinter der "Sea-Watch 4", sollte sich schon in den frühen Morgenstunden des Sonntags die zweite ereignen. Dieses Mal in einem wesentlich größeren Ausmaß. Die Morgenwache, deren Schicht auch ich angehörte, erblickte das schwarze Objekt während der aufgehenden Sonne. Schon bald konnten wir durch die Ferngläser sehen, dass viele Menschen auf dem Gummiboot sein mussten. Umgehend wurde die erste große Rettung der "Sea-Watch 4" vorbereitet. Alle Crew-Mitglieder legten ihre PPE (Personal Protection Equipment) sowie Covid-19-Schutz an. Die Rettungsboote "Bravo" und "Tango" wurden samt Rettungswesten zu Wasser gelassen.
Vom Deck der "Sea-Watch 4" aus konnte ich den Rettungsvorgang beobachten. Nachdem die Menschen auf den Schnellbooten von den Crew-Mitgliedern Arnaud und Georg, die jeweils an der Stirnseite der Rettungsboote auf Position sind, angesprochen und beruhigt wurden, ging es an das Verteilen der Rettungswesten. Da die Gummiboote seeuntüchtig sind und die Schläuche jederzeit platzen können, ist das unbedingt nötig.
Zunächst brachten "Bravo" und "Tango" Frauen und Kinder an Bord und peu à peu alle 97 Menschen, die auf das schwarze Gummiboot gepfercht waren. An Bord der "Sea-Watch 4" maß Crew-Mitglied Rebecca bei den Geretteten Fieber, teilte Masken aus, und Ilina von "Ärzte ohne Grenzen" sowie Marie (Protection Officer von Sea-Watch), registrierten die Schiffsbrüchigen. Mein Job war es, den Geflüchteten eine Flasche Wasser auszuhändigen. Das erlaubte mir, jede und jeden einzeln kurz wahrzunehmen. Einfach bekleidet und ausschließlich barfuß bestiegen die Menschen die "Sea-Watch 4". In ihren Augen nahm ich Erleichterung, Erschöpfung und Schüchternheit wahr. Einen Mann sah ich einen Dank zum Himmel senden. Mit zum Himmel erhobenen Armen schickte er wohl sein Gebet nach oben. Als alle Menschen an Bord waren und einen Sitz- oder Liegeplatz gefunden hatten, begrüßte sie Nora vom Team der "Guest Care"; auch der Satz "Wir werden euch unter keinen Umständen nach Libyen zurückbringen", fiel. Die Angesprochenen klatschten.
22 Kameruner, 29 Menschen von der Elfenbeinküste, 19 Menschen aus Mali, 1 Nigerianer, 17 Senegalesen, 2 Marokkaner, 12 Menschen aus Guinea, 1 Ghanaer und 2 Menschen aus Burkina Faso sind nun zusätzlich an Bord der "Sea-Watch 4". Die meisten unter ihnen sprechen Französisch.
Für mich persönlich war es das erste Mal, dass ich selbst sah, dass eine solche Menge an Menschen aus Seenot gerettet wurde. Was ich sonst allenfalls von Fotos oder Nachrichtenbildern kannte, habe ich heute morgen mit meinen eigenen Augen gesehen. Von 6 Uhr morgens bis etwa 12:30 Uhr war ich kontinuierlich Teil des Rettungs- und Boarding-Prozesses. Teilweise übernahm ich die Wache auf dem Bootsdeck und konnte beobachten, wie müde, aber einigermaßen glücklich die Geretteten waren. Dankbar nahmen sie einen Becher Tee und einen ersten Proteinriegel entgegen. Manche unter ihnen waren seekrank. "Was wird sie noch erwarten?", frage ich mich, wenn ich in ihre Gesichter sehe. Was wissen sie von Europa, davon, dass sie wenig willkommen sind? Dass die Rettung aus Seenot noch lange nicht heißt, dass sie ihren Platz in Europa finden werden?
"Alles besser als Libyen und Seenot", sagt mir jemand aus der Crew. Das ist wohl so. Alternativlos.
Auf meinem Tolino lese ich aus dem Buch "Mit der Bibel durch das Jahr". Dort legt Heike Springhart für den heutigen Sonntag den Psalm 140 aus. Die Passage: "Am Ende schafft Gott Recht und hilft den Armen und Elenden auf (...) Der flehende Ruf nach Beistand in unerträglicher Lage wird nicht ungehört bleiben. Auch wenn das, was geschieht, unerhört ist. Dazu braucht es Menschen, die in den Spuren des rechtschaffenden Gottes wandeln. Die das klare Wort nicht scheuen, die genau hinsehen (…)".
Als ich diese Zeilen nach diesem für die gesamte Crew extrem anstrengenden, aber erfolgreichen Tag der Rettung in meiner Kabine lese, empfinde ich die Worte als passend für die derzeitige Situation der "Sea-Watch 4". "Hinschauen, nicht wegsehen" – das ist heute geschehen. Auch wenn dieses Hinschauen erschöpfend sein kann. Die vielen Geretteten, die Leben, die sie führen. Wie lange sind sie auf der Flucht? Was haben sie alles schon erfahren an Gewalt? Die Kinder, deren Eltern sie bereits im Säuglingsalter auf Schlauchboote setzen? Die Zahlen, die mit Filzstift auf ihre T-Shirts geschrieben sind - was haben sie zu bedeuten? Wer hat sie abgezählt und warum?
Ich bin erstaunt, wie einer der Geretteten nach dem anderen schaut. Wie einer dem anderen den Becher einsammelt. Man sich ohne Probleme nebeneinander legt… Es geht friedlich zu an Bord der "Sea-Watch 4" mit 104 zusätzlichen Gästen an Bord.
Auch dieses Mal, auch bei dieser Rettung aus Seenot hat keine der angefunkten Küstenwachen reagiert. Auch dieses Mal sind die Libyer der "Sea-Watch 4" mit ihren Polizeibooten auf die Pelle gerückt und haben den diensthabenden Offizier dazu aufgefordert, den Kurs zu ändern. Doch noch wird die "Sea-Watch 4" das Suchgebiet nicht verlassen. Unterstützung aus der Luft bekommt sie seit gestern vom Sea-Watch-Flugzeug "Moonbird". Das wird von der HPI, der "Humanitarian Pilots Initiative", einer Stiftung mit Sitz in der Schweiz, betrieben.