"Glaube bleibt bis zuletzt persönlich"

Sterbebegleiterinnen aus München
epd-bild/Helmut Frank
Stephanie Wossilus (li.) ist von Beruf Polizistin und besucht Sterbende daheim. Verwaltungsbeamtin Patricia Lintl (rechts) arbeitet im Münchner Hospiz an der Effnerstraße.
Erfahrung der Sterbebegleiterin
"Glaube bleibt bis zuletzt persönlich"
Wie sterben Menschen? Und was sind die Dinge, die sie in den letzten Tagen und Stunden beschäftigen? Zwei langjährige Sterbebegleiterinnen aus München erzählen in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) von ihren Erfahrungen: Stephanie Wossilus (50) besucht Sterbende daheim, Patricia Lintl (54) steht Sterbenden im Hospiz bei. Wossilus ist von Beruf Polizistin, zudem produziert sie den Podcast "Sterbewelten - der Hospizpodcast". Verwaltungsbeamtin Lintl arbeitet im Münchner Hospiz an der Effnerstraße und ist im Bereich "Jugend trifft Hospiz" engagiert.

epd: Warum haben Sie sich für dieses Ehrenamt entschieden?

Stephanie Wossilus: Ausschlaggebend war für mich, als mein Vater 2012 im Krankenhaus innerhalb von zwei Wochen an einer Krebserkrankung gestorben ist. Im Nachhinein empfand ich es als Glück, die letzten acht Stunden an seiner Seite zu sein, aber ich war auch sehr hilflos in dieser Situation. Ich wusste nicht, wie ich mich richtig verhalte und was er eigentlich braucht.

Mich hat die Frage sehr bewegt, wie das eigentlich ist, wenn jemand am Ende seines Lebens ganz allein ist. Der nächste Schritt war ein Einführungsseminar beim Christophorus Hospiz-Verein - und bald dann das Vertiefungsseminar. Es ist ja nicht so, dass man morgens aufwacht und sagt, ich werde mal Hospizhelferin. Ich sage immer, dieses Ehrenamt hat mich gefunden.

Patricia Lintl: Das Thema Tod hat mich schon als Kind interessiert, wenn Großtanten oder Großeltern gestorben sind. Da wurde man damals außen vorgehalten, die waren dann einfach tot, nicht mehr da. Ich wollte immer wissen, was sie hatten und warum sie gestorben sind. Hospizhelferin wurde ich, als meine ehemalige Chefin schwer an Bauspeicheldrüsenkrebs erkrankte. Als sie zur Sterbehilfe in die Schweiz fahren wollte, habe ich mich mit ihr unterhalten und von den Möglichkeiten erzählt, wie man würdevoll und schmerzfrei sterben kann.

Tod und Sterben sind im Hospiz gegenwärtig. Wie groß sind für Sie die psychischen Belastungen?

Wossilus: Ich fühle mit den Menschen, aber ich leide nicht mit ihnen mit. Wenn es mich belasten würde, dann würde ich es nicht mehr machen, weil es dann nicht das Richtige für mich wäre. Natürlich gibt es Situationen, die einem nachgehen. Da hilft natürlich, wie der Christophorus Hospiz-Verein für seine Mitarbeitenden da ist. Wir haben immer Ansprechpartner und Möglichkeiten der Supervision.

"Man kann nicht die ganze Woche darüber nachdenken, wie geht es der Person jetzt?"

Lintl: Ich sehe viel Leid im stationären Bereich, abgemagerte Menschen am Ende ihres Lebens. Das berührt mich. Aber ich gehe nach meinem wöchentlichen Einsatz nach Hause und denke nicht mehr darüber nach. Man kann nicht die ganze Woche darüber nachdenken, wie geht es der Person jetzt? Lebt sie noch, hat sie noch Schmerzen? Ich kann mich da gut abgrenzen. Betrifft es meine eigene Familie, ist das ganz anders.

Wann ist es für kranke Menschen Zeit, ins Hospiz zu gehen?

Wossilus: Oft rufen schwer kranke Menschen beim Hospiz an und erkundigen sich, weil sie das selbst nicht wissen. Es ist in der Regel final, wenn man ins Hospiz geht, damit haben viele Menschen ein Problem.

Lintl: Der Leitsatz lautet, das stationäre Hospiz steht Menschen offen, die unheilbar krank sind und deren Leiden so fortgeschritten sind, dass ihre Lebenserwartung voraussichtlich nur noch wenige Monate beträgt.

Wer also ins Hospiz geht, weiß, dass er in seine letzte Lebensphase eintritt?

Wossilus: Für das stationäre Hospiz gilt das fast ausnahmslos. Aber wir haben ja vorher noch die ambulante Hospiz-Versorgung zu Hause. Die kann auch viel früher einsetzen. Es kommt auch vor, dass Menschen bereits nach einer schlimmen Diagnose vom Hospizdienst betreut werden.

Wie lange dauert eine Betreuung im Durchschnitt?

Lintl: Im stationären Bereich waren es im vergangenen Jahr durchschnittlich 25 Tage.

Wossilus: Ich hatte Betreuungen, wo ich vielleicht ein, zwei Besuche gemacht habe, dann sind die Patienten verstorben, und ich hatte Menschen, die ich über ein Jahr betreut habe. Das kommt immer auf die Schwere der Krankheit an und wie sie verläuft.

In welchen Gefühlslagen sterben Menschen? Dankbarkeit, Zorn, Angst - welche Gefühle oder Emotionen nehmen Sie wahr?

Wossilus: Von den Emotionen gibt es am Lebensende nichts, was es nicht gibt. Ich hatte eine Frau betreut, die sagte, sie kann jetzt noch nicht sterben, weil sie nach dem Tod ihres Mannes gerade erst angefangen hatte, das Leben zu führen, das sie eigentlich wollte. Mehrfach erlebe ich, dass Sterbende mit traumatischen Kindheitserfahrungen hadern. Sie sehen darin die Ursache, dass ihr Leben nicht gut verlaufen ist. Da erlebe ich schon auch Menschen, die in sich eine Wut tragen.

"Das Leben darf auch fragmentarisch bleiben."

Lintl: Ich hatte einmal einen Mann begleitet, der war Rechtsanwalt und wollte im Hospiz einen Fall noch unbedingt zu Ende bringen. Er hat gemerkt, er schafft das körperlich nicht mehr, er kriegt es nicht zu Ende. Das hat ihn unheimlich beschäftigt, er wurde fuchsteufelswild und wollte, dass ein bestimmtes Schreiben noch aufgesetzt wird. Aber es ging einfach nicht mehr. Genauso gibt es Menschen, die mit innerer Ruhe loslassen können. Sie haben ihr Leben gelebt, ein schönes Leben, und haben geklärt, was zu klären war.

Wossilus: Wichtig ist: das Leben darf auch fragmentarisch bleiben. Man kann nicht davon ausgehen, dass man am Schluss noch alles regeln kann.

Wie ist es, wenn familiäre Konflikte nicht gelöst sind? Bereuen das Sterbende?

Wossilus: Bei zwei meiner Fälle waren Erfahrungen von Gewalt und Missbrauch bis zum Schluss ein großes Thema. Beide waren um die 50 und haben mit ihrer schweren Erkrankung sehr gehadert: Warum trifft es mich? Ich glaube, dass solche Vorgeschichten im normalen Alltag nicht diese Präsenz haben, da geht es rund um die Uhr um die Arbeit und die Familie. Erst während der Behandlung haben viele zum ersten Mal wirklich Zeit, sich damit auseinanderzusetzen. Aber das andere gibt es eben auch: Sterbende, die versöhnt sind.

Hilft im Sterben der Glaube?

Wossilus: Der Glaube bleibt bis zuletzt etwas sehr Persönliches, Privates. Manche wollen nicht darüber sprechen. Es gibt auch Schwerkranke, die nicht über den Tod sprechen wollen. Sie erzählen mir von schönen Urlauben, ihren Enkelkindern. Bei Sterbenden erlebe ich die ganze Palette: Menschen, die sagen, "danach kommt gar nichts, es ist aus" bis zu "das ist gut nach dem Tod, da bin ich aufgehoben". Denen hilft der Glaube.

Welche Ängste haben Sterbende?

Wossilus: Neben der Angst vor Sterben und Tod gibt es auch die Angst vor dem, was danach kommt: Was kommt da an Strafe vielleicht in irgendeiner Weise auf mich zu? Ich hatte eine dement kranke Dame begleitet, die nicht mehr viel kommunizieren konnte. Ihre Tochter hatte mir erzählt, dass sie in einem Kloster groß geworden war, in dem sehr viel mit Angst gearbeitet wurde. Durch die Demenz wurde sie von ihrer angstbesetzten Kindheit eingeholt: Ich werde bestraft, jetzt kommt etwas Schlimmes auf mich zu.

"Manche haben eine Bibel auf dem Tisch liegen und bitten darum, dass ich ihnen daraus vorlese."

Lintl: Dass Sterbende sagen "Warum holt mich der liebe Gott nicht endlich?", das höre ich relativ oft. Wir sprechen dann darüber und beten auch zusammen. Manche haben eine Bibel auf dem Tisch liegen und bitten darum, dass ich ihnen daraus vorlese.

Hat sich ihr eigener Glaube durch ihre Arbeit im Hospiz verändert?

Wossilus: Ich hätte mich vorher als Agnostikerin bezeichnet. Im Rahmen der Hospizarbeit hat sich das verändert - zu einer gewissen Form von Glauben und Spiritualität. Ich kann gar nicht sagen, was dafür ausschlaggebend war, aber mit Menschen zu tun zu haben an deren Lebensende, das lässt einen natürlich nachdenken: Was kommt danach? Davor habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht, ich habe gedacht, nach dem Tod kommt nichts. Heute ist es ein tiefes Vertrauen, dass ich in ein großes Ganzes zurückkehre. Den Glauben, dass es nach dem Tod weitergeht, hatte ich vor der Hospizarbeit nicht.

Lintl: Ich glaube, dass es weitergeht. Ob das jetzt mit Himmel und Hölle sein wird, sei mal dahingestellt. Vor dem Tod habe ich keine Angst, aber vor dem Weg dorthin, vor dem Schmerz und vor dem Loslassen müssen.

Der christliche Glaube kennt das Phänomen der Seele. Was passiert mit der Seele in den letzten Sekunden? Was lässt sich da beobachten und beschreiben?

Lintl: Oft ist es so, dass Sterbende die Arme heben und mit den Händen nach oben greifen. Man hat das Gefühl, dass jemand sie abholen kommt. Wenn jemand nicht mehr atmet und kein Puls mehr zu spüren ist, öffnen wir das Fenster, damit die Seele ausfliegen kann. Ich habe bei vielen Verstorbenen beobachtet, dass sie dann sehr entspannt da lagen.

Wossilus: Ich habe das Gefühl von einer Anwesenheit der Seele auch nach dem Tod - zumindest für eine bestimmte Zeit. Die Frage ist ja auch, wann der Tod wirklich eintritt, und wie sichtbar das dann auch ist. Das Sterben zum Tod ist ein Prozess, den man beobachten kann. Die Atemzüge setzen teilweise lange aus, dann kommt noch einmal ein Atemzug, und dann ist es oft die Frage, wann war jetzt der Moment, wo der Mensch wirklich gestorben ist? Einmal bin ich - kurz nachdem ein Freund gestorben war - in das Sterbezimmer gekommen. Ich hatte das Gefühl, so ganz weg ist er noch nicht.