Begleitung bei traumatischen Erfahrungen

Gruppe in Afrika bei der Traumabegleitung
Silke Gabrisch/DBG
Das Programm für biblische Traumabegleitung wurde Anfang der 2000er Jahre von einem Team um Dr. Harriet Hill in Afrika entwickelt. Mittlerweile gibt es das Programm in über 150 Sprachen und Versionen.
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Begleitung bei traumatischen Erfahrungen
Weltweit bilden Bibelgesellschaften Kursleiter:innen für biblische Traumabegleitung aus. Das Programm findet in immer mehr Ländern großen Anklang. Bloggerin Silke Gabrisch, Referentin für internationale Arbeit bei der Weltbibelhilfe der Deutschen Bibelgesellschaft, hat einige Projekte vor Ort besucht und stellt das Konzept vor.

Das Programm für biblische Traumabegleitung wurde Anfang der 2000er Jahre von einem Team um Dr. Harriet Hill in Afrika entwickelt. Heute leitet Dr. Hill das Trauma Healing Institute, das zur Amerikanischen Bibelgesellschaft gehört. Im Zentrum des Programms steht das Arbeitsbuch "Traumatisierte Menschen begleiten", das mit Einzelnen oder Kleingruppen durchgearbeitet werden kann. Es vereint grundlegende Konzepte der Psychologie mit dem Wort Gottes.

Mittlerweile gibt es das Programm in über 150 Sprachen und Versionen, zum Beispiel für Kinder, Jugendliche oder für orale Kulturen. Es wird darüber hinaus angepasst an den spezifischen Kontext beziehungsweise die vorherrschenden Traumata eines Landes, also zum Beispiel Krieg, Naturkatastrophen, häusliche Gewalt usw. Viele Bibelgesellschaften, aber auch andere Organisationen schulen Laien, damit diese die Kurse in ihrem Umfeld durchführen können.

Ich muss zugeben: Als ich zum ersten Mal von dem Programm hörte, war ich ein wenig skeptisch. War es nicht etwas naiv, davon auszugehen, dass Laien mit ein wenig Schulung und Gottes Hilfe Traumata begleiten können – oder sogar heilen, wie der englische Name suggeriert? Brauchte es dafür nicht eine fachlich fundierte Ausbildung, weil sonst mehr Schaden als Nutzen entstehen könnte? Würden Betroffene am Ende vielleicht sogar ermutigt, "nur" zu glauben und Gott zu vertrauen, dann würde es schon werden? Doch nach und nach, nicht zuletzt auch durch meine Besuche bei Traumabegleitungsprojekten in verschiedenen Ländern, verstand ich den Ansatz besser – und bin heute richtig begeistert davon.

Anfängliche Skepsis

Zum einen gibt es in vielen, wenn nicht den meisten Ländern dieser Welt kein vergleichbares Angebot geschulter Psycholog:innen oder Traumatherapeut:innen, wie wir es von Deutschland her kennen. Darüber hinaus gelten psychische Probleme oftmals als Makel, der nicht thematisiert wird – viele bleiben mit ihrer Not alleine. Fachleute sind sich außerdem darüber einig, dass auch Lai*innen viel dazu beitragen können, dass Menschen nach psychischen Ausnahmesituationen neue Kraft und Stabilität gewinnen. Gerade Kleingruppensettings sind der ideale Ort, damit sich Traumata nicht verfestigen, sondern das Erlebte ans Licht kommen, beklagt, betrauert und schließlich bearbeitet werden kann. Den Materialen der Bibelgesellschaften ist eigen, dass die jeweiligen Einheiten immer auch einen biblischen Bezug haben.

Was auf den ersten Blick überraschen mag, ist auf den zweiten durchaus naheliegend, bietet die Bibel doch eine Fülle an Inhalten, in denen traumatisierte Menschen sich selbst, ihre Erfahrungen und Gefühle wiedererkennen können. In den Psalmen sehen wir beispielsweise, dass wir alle Gefühle vor Gott bringen dürfen. Ihre Gefühle offen darzulegen, dazu werden auch die Teilnehmenden ermutigt. Eine Übung kann es dann zum Beispiel sein, selbst eine Art Psalm zu schreiben. Auch Vergebung ist ein zentrales Thema.

Erste Erfahrungen in Armenien

Das erste Mal live erlebe ich das Traumabegleitungsprogramm bei einer Reise nach Armenien im August 2021. Im September 2020 ist es zu einem fünfwöchigen Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien um die Region Bergkarabach gekommen, der jederzeit wieder aufflammen kann. Auch ein knappes Jahr später sind die Folgen überall spürbar, noch immer kommt es zu Auseinandersetzungen an der Grenzregion. Viele Familien haben gelitten und ihre Söhne, Väter, Brüder verloren, einige sind noch vermisst und viele verwundet.

Im Kloster Haghartsin, gelegen in den Bergen der "Armenischen Schweiz", findet ein fünftägiges Traumabegleitungsseminar für verwundete Soldaten statt. Zwei Diakone der Armenisch-Apostolischen Kirche, drei Psychologinnen, eine Kunsttherapeutin und ein paar weitere Mitarbeitende kümmern sich intensiv um die 16 Soldaten, die hier geistlichen und psychologischen Beistand erhalten. 18- und 19-Jährigen mit Prothesen gegenüberzusitzen, deren unbeschwertes Leben von einem Tag auf den anderen vorbei war, geht mir ganz schön nahe. Gleichzeitig erlebe ich, wie neue Hoffnung wächst.

Die Psychologinnen arbeiten in Gruppen, aber auch einzeln mit den Männern. Die Soldaten erleben Gottes Beistand und seine Nähe, fassen neuen Mut. Diakon Arsen Zohrabayan erzählt mir: "Ich habe erlebt, wie Gott seine Hand ausstreckt und den Menschen begegnet. Ich hatte heute ein längeres Gespräch mit einem schwer verwundeten Soldaten, der nach außen immer gut drauf wirkt. Er hat das erste Mal Gefühle zugelassen und geweint. Mit 19 Jahren hat er schon so viel Trauma im Herzen. Ich wünsche ihm, dass er echten Frieden erlebt."

Gefühle zulassen und darüber sprechen

Gefühle zulassen – darum geht es unter anderem auch bei meinem nächsten Besuch in Namibia im März 2022. Seit 2013 führen Dürreserien zu wirtschaftlicher Rezession, die durch die Corona-Pandemie noch verstärkt wurde. Viele Menschen haben ihre Arbeitsstelle und damit ihre Existenzgrundlage verloren. Armut und Hunger nehmen zu. Darüber hinaus sind häusliche Gewalt und Gewalt gegen Frauen weit verbreitet. Die Bibelgesellschaft von Namibia bietet Traumabegleitungs-Wochenenden und Kurzveranstaltungen zum Thema an.

Bei einer solchen Veranstaltung in einer kleinen Kirche auf dem Land im Nordwesten Namibias bin ich dabei. Alle Teilnehmenden wollen lernen, erzählen sie in einer Austauschrunde am Anfang, wie man mit dem "Schmerz im Herzen" umgehen kann. Über die eigenen Gefühle zu sprechen oder andere danach zu fragen – das ist für fast alle hier völlig neu, denn es ist kulturell unüblich. Doch sie verstehen, dass emotionale Wunden so wie physische Wunden versorgt werden müssen, damit sie nicht zu eitern beginnen. Eifrig beginnen selbst die ungewöhnlich vielen älteren Männer in der Gruppe, ihren Lebensweg mit allen Höhen und Tiefen aufzuzeichnen. Im Anschluss tauschen sie sich in Kleingruppen darüber aus.

 

Für viele ist es das erste Mal, dass sie sich vor anderen öffnen. Doch es scheint ihnen gutzutun. Die 54-jährige Arleta sagt: "Als mein Mann im letzten Jahr starb, hat niemand nach meinen Gefühlen gefragt. Aber ich werde jetzt anfangen, über meine Trauer zu sprechen, und sie nicht mehr in mir einschließen." Es wird außerdem deutlich: Jede*r kann zum Werkzeug Gottes werden, wenn sie*er für andere da ist und mit ihnen über schwere Erfahrungen spricht.

Traumatisierte Menschen begleiten

Auch in Europa erleben wir gerade, dass sich ein kollektives Trauma ausbreitet. Seit Ende Februar herrscht Krieg in der Ukraine. Viele Betroffene suchen Zuflucht in anderen Ländern, wo die Hilfsbereitschaft groß ist. Ohne Frage brauchen viele Flüchtlinge zunächst einmal praktische und materielle Hilfe. Darüber hinaus sollten wir aber auch ihre seelische Not nicht vergessen. Gerade Kirchen haben hier eine Verantwortung, aber in der Regel auch Räumlichkeiten sowie Möglichkeiten, entsprechende Angebote für Menschen zu machen.

Das Trauma Healing Institute hat speziell für akute Krisensituationen ein Heft entwickelt, das eine Art Soforthilfe bietet mit praktischen Tipps, wie man während und nach einer Krise für sich selbst und andere sorgen und das Erlebte emotional und geistlich verarbeiten kann. Meine Beobachtung ist, dass bei Traumata schon wenig viel helfen kann. Warum fangen wir also nicht an, sichere Orte zu bieten, wo wir den Schmerz gemeinsam aushalten und Gott hinhalten?! Wo Wut, Trauer, Hass, alle Gefühle zunächst einmal wertfrei wahrgenommen und dann zur Ruhe gebracht werden können. Und wo seelische Wunden beginnen können, langsam zu heilen.

evangelisch.de dankt der Evangelischen Mission Weltweit und mission.de für die inhaltliche Kooperation.