Kinder in Israel "sehen entsetzliche Bilder"

Jüdischer Junge von hinten.
© Shatishira/Pixabay
Was macht die Gewalt mit den Kindern in Israel?
Trauma-Expertin im Interview
Kinder in Israel "sehen entsetzliche Bilder"
Wie erleben die jüngsten Bewohner Israels die andauernden Angriffe auf ihr Land? Was sind die psychischen Folgen für Kinder und was gibt ihnen jetzt Hoffnung? Professorin Liat Hamama von der Universität Tel Aviv hat sich auf kindliche Traumata spezialisiert. Für evangelisch.de hat sich die Therapeutin Zeit genommen, zu erzählen, was mit Kindern in Israel derzeit geschieht.

evangelisch.de: In Deutschland leben 83 Millionen Menschen, zwölf Prozent davon sind Kinder. Im Durchschnitt hat eine Frau ein Kind. Wie sieht es in Israel aus?

Liat Hamama: Im September 2022 betrug die geschätzte Bevölkerung von Kindern im Alter von null bis 17 Jahren in Israel etwa 3,088 Millionen, was etwa 32,2 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. In Haushalten mit Kindern in dieser Altersgruppe lebten durchschnittlich 2,44 Kinder. 

Wie haben israelische Familien den Anschlag erlebt?

Liat Hamama: Am 7. Oktober 2023, um 6.32 Uhr morgens, führte die Hamas einen überraschenden Raketenangriff auf Israel aus dem Gazastreifen durch, der bis in den Norden von Tel Aviv und Jerusalem reichte, während gleichzeitig Kämpfer der Hamas und des Islamischen Dschihad die Grenze durchbrachen und die Menschen in den Gemeinden jenseits der Grenze in Israel brutal massakrierten - Frauen, ältere Menschen, Kinder und junge Familien. Sie verbrannten zivile Häuser mit den darin lebenden Familien. Darunter auch Kinder, deren Leichen noch immer schwer zu identifizieren sind. Sie vergewaltigten Frauen und schnitten ihnen Körperteile ab. Sie töteten mehr als 1300 Menschen, darunter Araber und Juden. Seit dem Holocaust sind an keinem einzigen Tag mehr Juden getötet worden.

Mit welcher neuen Lebenssituation sind viele der Kinder nun konfrontiert, wo leben sie?

Liat Hamama: Kinder, die diese Ereignisse überleben, erleiden verschiedene Verluste. Sie verlieren ihre persönliche Sicherheit, ihre Bezugspersonen (beide Eltern oder ein Elternteil), ihr Zuhause, ihre vertraute Umgebung und ihre Freunde. Außerdem werden sie in provisorische Unterkünfte wie Hotels in weit entfernten Städten und Orten, weit weg vom Gaza-Gebiet, umgesiedelt. Während sie an diesen neuen Orten eine erste professionelle emotionale Unterstützung erhalten, haben sie auch mit einer emotionalen Überflutung und erhöhter physiologischer Erregung zu kämpfen.

Es ist wichtig zu erwähnen, dass auch Kinder, die außerhalb der Siedlungen um den Gazastreifen und der südlichen Städte leben, diesem gewalttätigen Angriff ausgesetzt sind. Sie werden mit Alarmen konfrontiert, die sie zum Betreten sicherer Räume zwingen, mit dem Geräusch von Raketeneinschlägen, mit beunruhigenden Bildern im Fernsehen und mit Posts in sozialen Netzwerken. Auch wenn sie die Ereignisse nicht direkt miterleben, lösen die Bilder und Informationen, denen sie ausgesetzt sind, erhebliche Ängste aus. Es handelt sich um eine Situation, die sie sich in ihrem Leben nie vorstellen konnten, eine Situation, die ihr Gefühl der physischen Sicherheit und ihren Glauben, dass Erwachsene sie beschützen könnten, untergräbt. Dieses Umfeld bietet einen fruchtbaren Boden für die Entwicklung eines Traumas.

Was passiert in der kindlichen Psyche?

Liat Hamama: Dieser Angriff setzte israelische Kinder, die in Städten wie Sderot und Ofakim sowie in Kibbuzim und Moschawim leben, entsetzlichen Bildern aus. Erfahrungen dieser Art stellen die psychische Belastbarkeit eines Kindes in Frage und können dazu führen, dass es traumatische Erinnerungen nicht mehr unterdrücken kann. Die beunruhigenden Bilder tauchen immer wieder im kindlichen Bewusstsein auf, in Form von Rückblenden, Albträumen und dem Wiederauftauchen von sensorischen Elementen - den Sinnen -, die mit dem traumatischen Ereignis verbunden sind.

"Erfahrungen dieser Art stellen die psychische Belastbarkeit eines Kindes in Frage und können dazu führen, dass es traumatische Erinnerungen nicht mehr unterdrücken kann"

Im Zentrum dieser Erfahrung steht ein tiefes Gefühl der existenziellen Bedrohung, das zu einem Verlust von Vertrauen, Kontrolle und Hilflosigkeit führt und die Gewissheit für Freiheit und Wahlfreiheit des Kindes schwinden lässt. Die Ordnung und Gesetzmäßigkeit, die sie einst in ihrer inneren und äußeren Welt wahrgenommen haben, werden gestört und offenbaren eine viel weniger sichere und vorhersehbare Realität, als sie bisher glaubten. Die Verbindung zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft ist zerrüttet.

Welche Faktoren haben einen Einfluss auf die Reaktion?

Liat Hamama: Der mörderische Angriff löst bei Kindern körperliche, emotionale und verhaltensmäßige Reaktionen aus. Diese Reaktionen variieren je nach Alter, dem Ausmaß des direkten Kontakts mit dem Ereignis, der persönlichen Vorgeschichte und früheren Begegnungen mit traumatischen Ereignissen. So äußern Kinder im Vorschulalter ihre Angst durch Weinen, Wutanfälle, Schlafstörungen, erhöhte Abhängigkeit von den Eltern, Anhänglichkeit und Trennungsprobleme. Kinder im Grundschulalter zeigen verstärkte Sorgen, erhöhte Reizbarkeit, Stress, Konzentrationsschwierigkeiten und die Vermeidung von angstauslösenden Aktivitäten oder Situationen. Bei Teenagern zeigen sich Anzeichen von Ängstlichkeit und Nervosität. Einige suchen nach Antworten auf die Gegenwart und die Zukunft, andere ziehen sich zurück und vermeiden es, sich zu engagieren.

"Kinder im Grundschulalter zeigen verstärkte Sorgen, erhöhte Reizbarkeit, Stress, Konzentrationsschwierigkeiten und die Vermeidung von angstauslösenden Aktivitäten oder Situationen"

Was brauchen Kinder jetzt?

Liat Hamama: Wenn Kinder unterschiedlich stark traumatisiert sind, müssen sie das Gefühl haben, dass sie Fragen stellen dürfen und nicht allein sind. Sie dürfen Angst, Wut und Stress empfinden, Trost bei den Eltern oder anderen Bezugspersonen suchen und regressive Verhaltensweisen wie Bettnässen, Stottern, zunehmende Abhängigkeit, Angst vor der Dunkelheit und Abneigung gegen das Alleinschlafen zeigen. Sie können auch unter körperlichen und psychischen Beschwerden leiden.

Während des traumatischen Ereignisses ist es wichtig zu erkennen, dass die Bindungsbedürfnisse des Kindes aktiv sind. Das Bindungssystem (Eltern-Kind) wird zum primären Ordnungssystem für die Reaktion des Kindes und hilft ihm, emotionale und körperliche Reaktionen zu regulieren. Kinder, die ein Trauma erlebt haben und über ein sicheres Bindungssystem verfügen, behalten mit größerer Wahrscheinlichkeit Repräsentationen von sicheren Bezugspersonen bei, was zu ihrer Genesung und Widerstandsfähigkeit beitragen kann.

Wie kann man sie jetzt konkret unterstützen?

Liat Hamama: Indem man sie aus der Gefahrenzone in einen ruhigen Bereich bringt. Sie brauchen Nahrung, der Schlaf muss sichergestellt sein ebenso wie die hygienischen Bedingungen. Sie müssen bei ihren psychischen Schwierigkeiten unterstützt werden und brauchen das Gefühl, dass sie wieder die emotionale Kontrolle erhalten. Sie brauchen Trost und die Rückkehr zu einer Form von vertrauter Routine und die Hoffnung, dass sich die Situation mit der Zeit verbessert.

"Sie brauchen Trost und die Rückkehr zu einer Form von vertrauter Routine und die Hoffnung, dass sich die Situation mit der Zeit verbessert"

Sind Kinder anfälliger für Traumata?

Liat Hamama: Ja, Kinder und Jugendliche sind im Allgemeinen anfälliger für Stresssituationen, da sie ihren Entwicklungsprozess noch nicht abgeschlossen und noch keine wesentlichen Bewältigungsfähigkeiten für den Umgang mit bedrohlichen Ereignissen erworben haben. Daher ist die Vermittlung der Sicherheitssituation für Kinder wichtig und kann eine Herausforderung darstellen, da sie an ihr chronologisches, kognitives und emotionales Alter sowie an ihr unterschiedliches Ausmaß der Belastung angepasst werden muss. 
Es ist wichtig, dass die Informationen von den Eltern vermittelt werden und die Kinder sich nicht über die Medien oder Freunde in einer Weise informieren, die für ihr Alter unangemessen ist.

Was tut die israelische Regierung für Kinder?

Liat Hamama: Fachleute aus dem Bereich der psychischen Gesundheit, darunter Psychologen, Sozialarbeiter und Kunst- und Musiktherapeuten wurden mobilisiert, um in den Gebieten Hilfe zu leisten, in die Familien und Kinder, die den Angriff überlebt haben, evakuiert wurden. Die psychologische Behandlung ist auf den Grad der Traumatisierung des Kindes, sein Alter und das Vorhandensein oder Fehlen von Unterstützungsnetzen zugeschnitten. Im ganzen Land werden umfangreiche zivile Anstrengungen unternommen, um Unterstützung und Hilfe anzubieten.

Wie wird sich das Erlebte in der Zukunft auf Kinder auswirken?

Liat Hamama: Eine endgültige Antwort auf die Frage, wie die Zukunft aus der Sicht der Kinder aussehen wird, ist derzeit schwierig. Derzeit liegt der Schwerpunkt auf dem "Hier und Jetzt" sowie auf der Organisation und Bewältigung der unmittelbaren Krise.

Was gibt Kindern jetzt Hoffnung?

Liat Hamama: Was ihnen in diesem Moment Hoffnung gibt, ist die kollektive Mobilisierung des israelischen Volkes, das physische, mentale und moralische Unterstützung bietet. Die Solidarität macht den Kindern Mut und gibt ihnen ein Gefühl der Hoffnung. Slogans wie "Gemeinsam werden wir siegen" oder "Am Israel Hai" spiegeln die Hoffnung auf eine bessere Zukunft wider und können als Quelle der Inspiration und Ermutigung dienen. In Wirklichkeit können wir erst dann über die "Zukunft" sprechen, wenn die Tage der Kämpfe vorbei sind.

Prof. Liat Hamama ist Sozialarbeiterin, Dozentin und Forscherin an der Bob Shapell School of Social Work der Universität Tel Aviv. Als Therapeutin hat sie sich auf die Unterstützung von Kindern bei der Bewältigung von Krankheiten, Krisen und Traumata spezialisiert.