In Deutschland sterben pro Tag zwei bis drei Menschen, obwohl ihr Leben gerettet werden könnte, wenn es nur passende Organspenden gäbe. Todesursachen sind etwa Nierenversagen, ein schwerer Herzfehler oder Mukoviszidose. Angenommen, jemand spendet ein Organ: Die Person stirbt etwa an einer Hirnblutung, hat aber zuvor den Wunsch geäußert, dass ihr nach dem Sterben ein Organ entnommen wird. Das kann dann einer Person mit einer schweren Krankheit eingepflanzt werden – etwa eine Niere, aber auch das Herz, die Lunge oder die Leber. Seit 2015 spenden in Deutschland etwas mehr als 610 Menschen jährlich nach dem Tod Organe, und etwas weniger als 300 jährlich spenden noch zu Lebzeiten (Tendenz leicht abnehmend; meist eine Niere). Es stehen aber etwa 8.500 Menschen auf der Warteliste, die ein Organ benötigen. Nun könnte der Deutsche Bundestag wieder debattieren, ob man die Organspende nicht rechtlich so regeln kann, dass man mehr Leben rettet – nämlich mit der sogenannten Widerspruchslösung.
Alexander Maßmann wurde im Bereich evangelische Ethik und Dogmatik an der Universität Heidelberg promoviert. Seine Doktorarbeit wurde mit dem Lautenschlaeger Award for Theological Promise ausgezeichnet. Publikationen in den Bereichen theologische Ethik (zum Beispiel Bioethik) und Theologie und Naturwissenschaften, Lehre an den Universitäten Heidelberg und Cambridge (GB).
Ich selbst habe mich mit einen Spenderausweis zur Organspende bereiterklärt, doch erst jetzt habe ich gelernt, dass in England, wo ich lebe, bereits seit vier Jahren die Widerspruchslösung gilt! Das heißt: Im Gegensatz zu Deutschland werden in England alle, die der Organspende nicht widersprochen haben, als willige Organspender betrachtet. Eine unkomplizierte Erklärung, dass man die Organspende ablehnt, ist jederzeit möglich. In Frankreich und den meisten europäischen Ländern gilt diese Widerspruchslösung schon länger. Spanien gilt als "Europameister" der Organspende, unter anderem wohl auch aufgrund dieses Modells. Nun will der Bundestag debattieren, ob Deutschland die gegenwärtige Zustimmungslösung durch die Widerspruchslösung ersetzen soll.
Als die Widerspruchslösung vor vier Jahren in England eingeführt wurde, kam es zu einem leichten Anstieg der Spenderzahlen. Aber inzwischen liegen die Zahlen wieder knapp unter dem niedrigen Niveau von 2015. Neben der Covid-Pandemie dürfte das an landesspezifischen Gründen liegen. Aber es lohnt sich bei dem Thema, genau hinzusehen. Denn auch in Deutschland liegen wir mit wichtigen Annahmen zum Thema Organspende falsch!
Die eigene Entscheidung: Worum es geht
In Deutschland gilt bislang nicht die Widerspruchslösung, sondern die Zustimmungslösung: Organe spendet man nur, wenn man ausdrücklich den Wunsch dazu äußert. Solange man sich nicht erklärt, gilt das als Ablehnung. Es können auch Angehörige angeben, dass eine Organspende im Sinn des Verstorbenen wäre. Kritiker der jetzigen Regelung meinen, dass tatsächlich wesentlich mehr Menschen Organe spenden möchten, nur äußern die sich nicht ausdrücklich. Weil die Zustimmungslösung aber voraussetzt, die Menschen lehnten eine Organspende stillschweigenden ab, verhindere sie verschiedentlich die Spende. Das wäre in der Widerspruchslösung anders. Wenn dort wiederum Angehörige meinen, eine Organspende wäre nicht im Sinne der Verstorbenen, hat ihre Stimme durchaus Gewicht.
So oder so gilt: Wer Klarheit schaffen möchte, für oder gegen eine Organspende, sollte das schriftlich darlegen, zum Beispiel im neuen offiziellen Online-Register. Das ist jederzeit möglich, relativ unbürokratisch, kostet nichts und lässt sich auch korrigieren. Ich ermutige Sie, sich selbst Gedanken über die Organspende zu machen und aufzuschreiben, ob Sie selbst spenden möchten oder nicht.
Auch bei Widerspruchslösung wird es nur bei einer kleinen Minderheit der Sterbenden zu einer Organspende kommen. Das liegt an weiteren medizinischen und juristischen Regeln. Dennoch leuchtet im Allgemeinen die Annahme ein: Wo die Widerspruchslösung gilt, dürfte vermutlich die Anzahl der gespendeten Organe zunehmen, und es können etwas mehr Leben gerettet werden – auch wenn das kein Automatismus ist. Aber kann man einfach voraussetzen, dass die Bürger:innen zu einem so persönlichen Schritt wie der Organspende bereit sind, auch wenn sie sich nicht ausdrücklich dazu bereiterklären? Würden manchen Menschen nach dem Tod Organe entnommen, obwohl sie das nicht gewollt hätten, wenn sie sich die Frage gestellt hätten? Kann man es den Bürger:innen zumuten, dass sie sich so oder so erklären müssen, weil ansonsten nach dem Tod ein intimer chirurgischer Eingriff vorgenommen werden könnte? Oder bedeutet die Widerspruchslösung umgekehrt, dass als neuer Standard das gelten würde, was die meisten womöglich ohnehin wollen, nämlich Organe zu spenden und Leben zu retten?
Wie denken die Menschen über die Organspende?
Viel hängt hier davon ab, ob eine klare Mehrheit der Menschen zur Organspende bereit ist. Geschieht sie aufgrund freier Zustimmung, ist die Organspende löblich. Eine Ablehnung der Spende kann man moralisch aber durchaus auch begründen. Wird aber die Tat herbeigeführt ohne freie Zustimmung, wird es problematisch. Hier spielt nun eine Statistik eine wichtige Rolle in den Debatten zur Organspende. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung führt regelmäßig eine Umfrage durch. Der Trend der letzten Jahre lautet demnach, dass 80 Prozent der Menschen oder mehr der Organspende positiv gegenüberstehen. Andererseits haben nur etwa 40 bis 45 Prozent eine Erklärung zur Organspende abgegeben. Kaum eine Debatte über die Organspende kommt ohne diese Statistik aus. Fraglich ist nur, was diese Statistik bedeutet!
Eine Journalistin fasste die Umfrage in einem Tagesschau-Podcast so zusammen: "Die meisten wollen offenbar spenden, sind dem offen gegenüber, aber die wenigsten tun’s dann." Diese Aussage ist falsch. Auch bei der Bundestagsdebatte zur Widerspruchslösung 2019 führten viele die Statistik zugunsten der Widerspruchslösung an: Gut 80 Prozent seien spendenbereit. Der jetzige Gesundheitsminister Karl Lauterbach meinte sogar zugunsten der Widerspruchslösung: (1) Die große Mehrheit der Menschen wolle spenden; (2) nur die Hälfte dieser Gruppe – also wohl etwa 40 Prozent – habe diese positive Entscheidung schriftlich erklärt; und (3) die Widerspruchslösung stelle sicher, dass die große Mehrheit der Menschen ihren Willen bekommt und die Weichen wirklich Richtung Organspende gestellt werden. Das ist sogar doppelt falsch.
Eine unklare Frage
Tatsächlich wurde in der Umfrage gefragt: "Was halten Sie generell von Organ- und Gewebespende? Stehen Sie dem eher positiv oder eher negativ gegenüber?" Zunächst ist "positiv" die sozial erwünschte Ansicht, die verschiedentlich nicht der wirklichen Überzeugung entsprechen dürfte. Außerdem ist die tatsächliche Frage auffällig vage – was bedeutet "generell"? Gefragt wurde gerade nicht: "Könnten Sie sich unter Umständen vorstellen, selbst ein Organ zu spenden?"
Eine schlüssige, ausführliche Antwort auf die wirkliche Frage könnte durchaus so lauten: "Wenn sich Leute für eine Organspende entscheiden, respektiere ich das. Kritisieren würde ich diese Möglichkeit also nicht ‘generell’! Ich persönlich möchte übrigens nicht Organe spenden. Aber gefragt ist hier ja ausdrücklich nach meiner Einstellung zur Transplantationsmedizin ‘generell’, nicht nach der persönlichen Entscheidung über mich selbst. Also lautet meine Antwort: eher positiv."
Wir wissen nicht, was die Leute meinen, wenn sie sagen, sie stehen dem Transplantationswesen eher positiv gegenüber. Vielleicht meinen einige, die Existenz der Transplantationsmedizin im Abstrakten sei nicht zu verurteilen. Wahrscheinlich geben keineswegs alle eine Antwort zu einer möglichen Entscheidung über ihre eigene Person. Ärgerlich, dass die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung mit einer so missverständlichen Umfrage seit Jahren für Verwirrung sorgt.
Wie viele Menschen haben ihren Willen erklärt?
Außerdem entscheiden sich nicht 40 bis 45 Prozent schriftlich für eine Organspende. Es geben 40 bis 45 Prozent an, sie hätten sich schriftlich erklärt, sei es positiv oder negativ. Wir wissen aber aufgrund der Erfahrungen in den Krankenhäusern: Wenn in den letzten Jahren eine Organspende im Krankenhaus konkret zur Entscheidung anstand, lag bloß in 15 Prozent der Fälle eine Erklärung vor. Wir wissen außerdem, etwa aus den Befragungen zur Patientenverfügung, dass einige Menschen die sozial erwünschte Option angeben, damit aber eine Falschaussage machen.
Verwirrung
Diese Überlegungen zeigen drei Dinge: Erstens wissen wir weniger über die Bereitschaft der Menschen zur Organspende, als wir denken. Dennoch dürfte zweitens die Bereitschaft der Menschen zur Organspende niedriger sein, als wir oft annehmen. Drittens wird die Debatte über die Widerspruchslösung schludrig und unzuverlässig geführt. Die positiven Ergebnisse der Umfrage sind nicht geeignet, politische Entscheidungen zu begründen. Hoffen wir, dass die Statistiken bei der kommenden Bundestagsdebatte nicht wieder falsch dargestellt werden!
Stellungnahme
Wie aber soll man jetzt urteilen: Für die Zustimmungs- oder die Widerspruchslösung? Ein gravierendes Problem der Widerspruchslösung besteht darin, dass manche Menschen geistig prinzipiell nicht in der Lage sind, eine Erklärung abzugeben. Obdachlose können oft nicht Stellung nehmen, weil sie weder Postadresse noch Internetzugang haben und weil oft die nötigen Dokumente fehlen. Junge Menschen bilden sich manchmal keine Meinung aufgrund der Ansicht: Alle Menschen sterben, nur ich nicht. Bei anderen bestehen Sprachbarrieren, und das Verständnis für medizinische Sachverhalte ist gering. Wieder andere werden von der Debatte gar nichts mitbekommen. Insgesamt darf man hier fehlenden Widerspruch nicht als Einverständnis werten.
Wenn jedoch die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger zur Organspende so hoch ist, wie viele Befürworter der Widerspruchslösung meinen, dann müsste es auch möglich sein, das Spendenaufkommen zu erhöhen ohne Widerspruchslösung. Lauterbachs Argument, man solle die Widerspruchslösung einführen, gerade weil sehr viele Menschen für die Organspende sind, wäre selbst dann kein gutes Argument, wenn seine Zahlen stimmen würden. Denn was hält die Menschen davon ab, eine Erklärung aufzusetzen – wollen sie im tiefsten Herzen vielleicht doch nicht spenden?
Um die Anzahl der Organspenden zu erhöhen, könnte man in den Krankenhäusern etwa mehr Stellen für Transplantationsbeauftragte finanzieren. Die stellen etwa sicher, dass die Spendenbereitschaft bei todkranken Patienten tatsächlich geprüft wird, und sie werfen die Frage im Gespräch mit den Angehörigen eines Verstorbenen auf. Im europäischen Vergleich ist die Zahl der Transplantationsbeauftragten in Deutschland überraschend gering. Außerdem ist das Online-Register zur Organspendeerklärung erst ein paar Monate in Betrieb. Wenn es besser beworben wird, dürfte die Hemmschwelle zur Erklärung der Spendenbereitschaft sinken.
Wenn solche Schritte nicht im Laufe von ein paar Jahren fruchten, fragt sich noch immer, weshalb viele Menschen dem Transplantationswesen "generell" positiv gegenüberstehen, sich aber nicht zu einer positiven Spendererklärung durchringen können. Bevor wir die Widerspruchslösung wieder ernsthaft zur Abstimmung stellen, brauchen wir dringend bessere Kenntnisse darüber, wie die Menschen wirklich über die Organspende denken. Dass vergleichsweise wenige Menschen die Bereitschaft zur Spende schriftlich erklären, spricht auf unserem jetzigen Kenntnisstand mindestens so sehr gegen die Regelung wie für sie. Hier steht das Vertrauen der Bevölkerung in das Gesundheitswesen auf dem Spiel.
Das eigenartige Resultat der Umfrage könnte auch die falsche Ansicht mancher Menschen widerspiegeln, wer sich zur Organspende bereit erklärt, würde im Krankenhaus schlechter versorgt. Diese Fehlinformation hat die AfD so im Bundestag vorgetragen. Das Thema wäre wieder eine Gelegenheit für populistische Kräfte, das Gesundheitswesen mit Hirngespinsten zu diskreditieren, so wie sie es bereits während der Pandemie getan haben (Mikrochips & Co). Die AfD freut sich bestimmt auf die Bundestagsdebatte zur Widerspruchslösung. Auch hier droht die Politik, Vertrauen zu verlieren. Das gesellschaftliche Vertrauen ist für die Gewinnung neuer Organspenden aber wichtiger als die Einführung einer bestimmten rechtlichen Regelung.