"Rechtsextremismus kein Arme-Leute-Phänomen"

Universitaet Bielefeld
Andreas Zick ist Professor fuer Sozialisation und Konfliktforschung und leitet das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld.
Experte zu Sylt
"Rechtsextremismus kein Arme-Leute-Phänomen"
"Es sind die Mittel- und Oberschichten, die nach Studienlage den Rechtspopulismus tragen", sagte Konfliktforscher Andreas Zick dem Evangelischen Pressedienst. "Es sind ökonomisch nicht bedrohte Menschen, die für die Propaganda, die Verbreitung von Verschwörungsmythen sorgen und den Rechtsextremismus organisieren wie stärken."

Das Video mit rassistischem Gegröle in einem Party-Club auf Sylt zeigt nach Einschätzung des Extremismusforschers Andreas Zick "nur die Spitze des Eisbergs solch radikaler Gemeinschaft der Bessergestellten". Studien zufolge seien es die Mittel- und Oberschichten, die den Rechtspopulismus tragen, sagte der Leiter des Instituts für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld.

epd: Die ausländerfeindlichen Gesänge in einem exklusiven Party-Club auf Sylt haben entsetzte Reaktionen ausgelöst. Von "Prosecco-Nazis" ist die Rede, Bundesinnenministerin Nancy Faeser spricht von einer "wohlstandsverwahrlosten Parallelgesellschaft". Sehen wir hier die bürgerliche Seite des Rechtsextremismus?

Andreas Zick: Genau das sehen wir: Menschen aus den vermutlich ökonomisch abgesicherten, wenn nicht gehobenen Einkommensgruppen, die sich neben einem guten Leben auch rechtsextreme und rassistische Unterhaltung erlauben. Wir sehen aber vielleicht auch Kleinbürger im Gewand der sogenannten Oberschicht. Frau Faeser hat es mit der Parallelgesellschaft gut bezeichnet, ob "wohlstandsverwahrlost" zutrifft, hängt davon ab, ob wir erwarten, Menschen mit Wohlstand könnten nicht verwahrlost sein. Es sind die Mittel- und Oberschichten, die nach Studienlage den Rechtspopulismus tragen, es sind ökonomisch nicht bedrohte Menschen, die für die Propaganda, die Verbreitung von Verschwörungsmythen sorgen und den Rechtsextremismus organisieren wie stärken.

Rechtsextremes Weltbild in jeder Schicht vertreten

Nach der sogenannten Potsdamer Enthüllung durch das Rechercheteam von "Correctiv" im Januar, nach dem Bekanntwerden der Terrorpläne von Reichsbürgern müsste klar geworden sein, dass Rechtsextremismus und Rechtspopulismus kein Arme-Leute-Extremismus sind. In vielen Studien, auch unserer Mitte-Studie von Frühjahr 2023 zeigt sich, dass in bildungsschwachen und ökonomisch prekären Gruppen zwar eher Bedrohungswahrnehmungen mit Menschenfeindlichkeit und antidemokratischen Einstellungen einhergehen. Es zeigt sich aber auch, dass die Unterschiede zu Bessergestellten geringer werden, wenn es um subtile Herabwürdigungen geht und dass sich Menschen, die sich selbst einer unteren, mittleren oder höheren Schicht zuordnen und ein rechtsextremes Weltbild haben, kaum unterscheiden. Es sind sieben Prozent unter jenen, die meinen, einer Oberschicht anzugehören, und je neun Prozent, die sich der Unter- oder Mittelschicht zuordnen, die klar rechtsextrem orientiert sind.

Welche rechtspopulistischen Einstellungen gibt es beispielsweise?

Zick: Fünf Prozent unter jenen, die sich als Oberschicht verstehen, verharmlosen den Nationalsozialismus, vier Prozent sind es in der Mittel- und drei Prozent in der unteren Schicht. Auffällig ist auch, dass sechs Prozent unter jenen, die meinen, zur Oberschicht zu gehören, rassistische sozialdarwinistische Einstellungen teilen, also zum Beispiel meinen: "Wie in der Natur wird sich in der Gesellschaft der Stärkere durchsetzen" oder "Eigentlich sind die Deutschen anderen Völkern von Natur aus überlegen". Unter denen, die meinen, zur Mittelschicht zu gehören, sind es ebenfalls sechs Prozent und unter denen, die sich in der unteren Schicht sehen, sind es nur vier Prozent.

"Und nicht zuletzt sitzen in den radikalen Parteien viele Vermögende in den Spitzenpositionen."

Ich könnte weitere Befunde anfügen, die zeigen, wie verbreitet rechtspopulistische, rechtsextreme und menschenfeindliche Einstellungen sind. Dabei zeigt sich immer wieder, dass sogenannte neoliberale soziale Orientierungen, die Vermögende prägen, und die Behauptung, ihnen stünde mehr zu, die Demokratiedistanz der Abgesicherten prägt. Und nicht zuletzt sitzen in den radikalen Parteien viele Vermögende in den Spitzenpositionen.

Rassismus und Menschenverachtung scheinen zunehmend mit Mitteln der Popkultur über soziale Medien verbreitet und in allen sozialen Schichten salonfähig und verharmlost zu werden. Wie groß ist das Problem?

Zick: Die sozialen Medien haben tatsächlich einen neuen erlebnis- und unterhaltungsorientierten Rassismus und Rechtsextremismus salonfähig gemacht. Rassismus und der eigene Extremismus werden gerade unter rechtsradikal orientierten Anhängern in Social Media inszeniert. Er wird karikiert, verharmlost und gerechtfertigt. Es hat der Sylter rassistisch und nationalistisch gestimmten Partygesellschaft so viel Spaß gemacht, dass die Selbstinszenierung geteilt wurde, um Aufmerksamkeit und "Likes" zu bekommen. Das gehört dazu, aber die Spaßkomponente funktioniert nur, wenn auch ein ideologisches Motiv dazukommt und wenn die Gruppen Überlegenheit und Legitimität empfinden.

Es ist eine Gemeinschaft der Radikalen. Dass dies noch viel mehr verbreitet ist, davon ist auszugehen. Wir sehen nur die Spitze des Eisbergs solch radikaler Gemeinschaft der Bessergestellten. Der Bezug zu anderen, die den Schlager schon für extremistische Inszenierungen verwendet haben, ist da, der Spruch "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus" ist ein Klassiker unter Rechtsradikalen und soll in der Tradition stehen, und der gezeigte Hitlerbart zeigt, wie ungeniert die Inszenierung erfolgt.

Auf Sylt und in ähnlichen Fällen gab es offenbar keinen Widerspruch zum Geschehen, sondern nur Mitmachen oder schweigendes Zuschauen. Wie kann man in einer solchen Situation richtig reagieren und was ist gesellschaftlich nötig?

Zick: Der Club hat richtig reagiert, weil er zuerst ein lebenslanges Betretungsverbot ausgesprochen hat und weil er klargemacht hat, dass er dazwischengegangen wäre, wenn Mitarbeitern etwas aufgefallen wäre. Er hat also klare Kante gezeigt und die Bedeutung von Zivilcourage betont, die ausgeblieben ist. Gesellschaftlich nötig ist meines Erachtens im Jahr des Grundgesetzes, die Normen und den Anspruch an eine weniger rassistische und rechtsextreme Gesellschaft hochzufahren, auch wenn das anstrengend ist und keinen Spaß macht. Antirassismus ist keine Ideologie, sondern eine Verpflichtung, die aus dem Grundgesetz hervorgeht. Nur weil es ein Grundgesetz gibt, in dem Artikel 1 die Würde eines jeden Menschen garantiert, ist das noch keine Garantie, dass es auch Realität ist.

Zuspruch zu Artikel 1 des Grundgesetz gesunken

In der Mitte-Studie 2023 haben wir festgestellt, dass der Zuspruch zu Artikel 1 von 93 Prozent in 2018/19 auf 87 Prozent gesunken ist. Alltagsrassismus erleben viele Menschen, deren Perspektiven wir nicht hinreichend einnehmen. Das, was die betuchten Menschen im Video grölen, verletzt andere. All das wird immer wieder verharmlost und Rassismusprävention als ideologisch bezeichnet. Dabei wissen wir, dass dort, wo eine Extremismus- und Rassismusprävention in Institutionen und Unternehmen vorhanden ist, der Zusammenhalt, die Leistungsfähigkeit und die Gesundheit der Menschen besser sind, um es positiv zu deuten. Es braucht also einen Ruck in der Gesellschaft in Richtung Verpflichtung zum Grundgesetz - wenn nicht in diesem Jahr, wann dann? Die Rechtsextreme ist nach dem Weltkrieg noch nie so gut national und global organisiert gewesen und sie wittert die Chancen der Krisen und nutzt sie, indem sie Menschen Ohnmacht einredet.