Wölfe in Deutschland: Schützen oder abschießen?

Europäischer Wolf im Tierpark
© epd-bild/Heike Lyding / evangelisch.de (M)
Die Jagd auf heimische Wölfe ist ein umstrittenes Thema zwischen Wahlkampfpolemik, Tierschutz und Tierethik.
Kolumne: Evangelisch kontrovers
Wölfe in Deutschland: Schützen oder abschießen?
Der Wolf ist zurück in Deutschland. Ein faszinierendes Tier – doch anders als in der Friedensvision der Bibel aus Jesaja 11 reißt es auch Schafe. Diesmal die Frage in "evangelisch kontrovers": Soll man den Wolf weniger entschieden schützen?

In Deutschland gibt es etwa 1400 wilde Wölfe. Hundert Jahre waren sie in Deutschland ausgerottet, doch vor etwa 25 Jahren sind die ersten eingewandert, und seither vermehren sie sich. Menschen haben sie in Deutschland noch nie angegriffen, und die allermeisten von uns werden nie einen sehen. Vor allem ernähren sich Wölfe von Rehen, Hirschen und Wildschweinen. Allerdings reißen sie zu einem kleinen Teil auch Nutztiere. Im Jahr 2022 töteten sie immerhin etwa 4300 Tiere, überwiegend Schafe, teils auch Ziegen und Fohlen.

Fast überall in Deutschland zahlen die Länder für Elektrozäune, mit denen Bauern ihre Schafe schützen. Für gerissene Tiere gibt es Entschädigung. Man liest immer wieder davon, dass Zäune nicht sachgemäß aufgebaut waren oder fehlten. Allerdings kostet auch die Instandhaltung der Zäune Zeit und Geld – und manchmal kann auch der beste Zaun den Wolf nicht von der Herde fernhalten! Deshalb hat man sich jetzt in Deutschland geeinigt, dass man mit nur geringen Hürden einen Wolf abschießen darf, wenn er ein Schaf gerissen hat. Ansonsten stehen Wölfe aber unter striktem Schutz.

In Jesaja 11 heißt es friedlich: Der Wolf wird beim Lamm wohnen. Doch so ist es noch nicht. Der Wolf ist kontrovers. Hier lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Außerdem fragt sich: Hat die theologische Ethik etwas beizutragen?

Der Wolf in der Politik

Mit der kommenden Europawahl könnte der Schutz des Wolfes verringert werden. Das dürfte auch damit zu tun haben, dass ausgerechnet Ursula von der Leyens Lieblingspony einem Wolf zum Opfer fiel. Diejenigen, die den Schutz für den Wolf abschwächen wollen, konnten sich seither in dem politischen Lager durchsetzen, dem auch die CDU angehört. Sie könnten die Rechtslage so ändern, dass man eine bestimmte Quote an Wölfen regulär schießen darf, unabhängig von bestimmten Übergriffen auf Nutztiere. 

Besonders auf dem Land kippt die Stimmung gegen den Wolf. Viele Politiker:innen wollen den Bauern das Leben erleichtern. Die AfD macht bereits Wahlkampf gegen den Wolf.

Wie der Wolf lebt

Eine reguläre Abschussquote, unabhängig von konkreten Übergriffen, könnte das Problem noch verschärfen. Denn die Wölfe leben entweder in Rudeln oder sind durchwandernde Einzelgänger. Auf Rehe und Wildschweine können Wölfe eigentlich nur in einem funktionierenden Rudel Jagd machen. Das ist klar der Regelfall. Ein Einzelgänger dürfte es dagegen versuchen, einen Zaun zu überwinden, um ein Schaf zu reißen. Das Wolfsrudel ist wiederum sehr territorial und wird den Einzelgänger verjagen oder töten. 

Die getöteten Schafe gehen zumindest häufiger auf das Konto der Einzelgänger. Aber: Wenn man nun willkürlich einen Wolf schießt, zerstört man die Struktur des Rudels und macht aus Rehjägern Einzelgänger, die es auf Schafe absehen. Oder sind vielleicht doch Rudel für die toten Schafe verantwortlich?

Die neue Rechtslage

Neuerdings gibt es die Regel, dass man einen Wolf dann abschießen darf, wenn ein Schaf gerissen wurde. Laut Bundesumweltministerium zeigt die Forschung, dass der Übeltäter an den Tatort zurückkehrt. Stimmt das? Auf frischer Tat ertappt man ihn nicht, sondern man erlegt einen Wolf, der sich gerade in der Nähe herumtreibt. Ob das tatsächlich meist der Richtige ist, wird sich nun zeigen.

Aber weshalb schützt man in Deutschland überhaupt Wölfe? Die Tiere nach und nach zu dezimieren, klingt vielleicht nicht so schlimm wie der Verlust von etwa 4300 Schafen jährlich. Der Wolf war ja ohnehin lange weg. Wenn er bloß nicht so ein humorloses Raubier wäre! Eine recht drastische Position – die aber auch die Grenzen der theologischen Tierethik aufzeigt. 

Einzelne Tiere zählen

Unsere Tierethik schaut auf das einzelne Lebewesen. Manche appellieren: Habe Mitleid mit dem Tier! Mensch, Du bist ist nicht das Maß aller Dinge! Manche Ethiker:innen schildern: Der "wohl erfolgreichste Tierethiker aller Zeiten", Franziskus von Assisi, hat in Gubbio einen bösen Wolf gezähmt. Aus Feinden wurden Freunde. Die Ethiker:innen appellieren an die biblische Vision des Tierfriedens (Jesaja 11) oder an eine natürliche Gottesbeziehung der Tiere. 

Wölfe sind faszinierend und edel. Aber mit welchem Tier sollen wir denn Mitleid haben? Viele finden Wölfe vor allem gefährlich. Also könnten wir vergleichen, welches Szenario den meisten Tieren nützt. 4300 Schafen standen 2022 fast 1400 Wölfe gegenüber, und auch 2023 sind die nicht Vegetarier geworden. Weshalb sollte man sich für die Wölfe entscheiden, wenn es nach Zahlen geht? 

Andererseits fallen im Vergleich zu den 750 Millionen Nutztieren, die 2022 in Deutschland geschlachtet wurden, 4300 Schafe vielleicht eher nicht ins Gewicht. Immerhin werden in Deutschland etwa 1,5 Millionen Schafe gehalten. Für Naturschützer ist die Ansiedelung des Wolfes ein Erfolg. Eine ganze Tierart hier zu haben oder nicht, ist etwas anderes als 0,3% Schafe mehr oder weniger. Da die Wolle zu wenig Geld einbringt, wären sie ohnehin irgendwann unsentimental geschlachtet worden. Und doch: Bauern und Schäfer, mit ihren Tieren vertraut, sind erschüttert, wenn sie die Kadaver finden. Auf Zahlen kann man die Sache nicht runterbrechen.

Tierrechte

Oft ist auch zu hören, dass der Wolf seit Jahrtausenden in Mitteleuropa ansässig war und irgendwie hierhingehört. "Der Wolf hat das ältere Heimatrecht. Wir Menschen sind die Zugezogenen." Dass ein Theologe so mit Tierrechten argumentiert, finde ich aber nicht überzeugend. Wir können schlecht die heutigen Wölfe zu Rechtsnachfolgern derjenigen Wölfe ernennen, die lange in Deutschland gelebt hatten und dann ausgerottet wurden. Auch die Evolution, die den Wolf erst hervorgebracht hat, schert sich nicht ums Recht.

Man kann auch keine Rechte ableiten von einem jahrtausendealten Idealzustand der Schöpfung: Nur, dass es einmal so war, heißt nicht, dass es wieder so sein müsste. Die Lüneburger Heide zum Beispiel steht unter Naturschutz, aber es würde sie so nicht geben, wenn Menschen nicht künstlich eine ganze Landschaft geformt hätten und sie erst zu dem gemacht hätten, was sie heute ist.

Umfrage

Soll man den Wolf weiterhin schützen und den Abschuss zumeist verbieten?

Auswahlmöglichkeiten

Nein, selbst wenn Wölfe nie in Deutschland gelebt hätten, würde sich nichts an der Frage ändern, ob wir sie jetzt dulden und schützen sollen. Wenn es für die Lebewesen insgesamt besser wäre, müsste die Tierethik zur Dezimierung oder Ausrottung des Wolfes in Deutschland raten. Wie ein solches "besser" aussähe, ist eine schwierige Frage. Aber ich meine: Es wäre nicht besser.

Ökosysteme 

Der Begriff des Ökosystems ist in der christlichen Tierethik weitgehend unbekannt. Doch im Ökosystem Wald sind Wölfe sehr nützlich. Sie jagen vor allem Rehe, Hirsche und Wildschweine. Unter ihnen jagen sie besonders die alten und kranken Tiere, so dass die Rehpopulation auf die gesunden Tiere dezimiert wird. Zudem breiten sich Krankheiten weniger aus.

Ohne den natürlichen Feind nehmen Rehe und Wildschweine aber überhand. Unsere intensive Landwirtschaft versorgt sie durchs ganze Jahr mit Nahrung. Im Wald richten sie Schaden an, wo sie die Sprösslinge von Eiche, Buche und anderen Bäumen abbeißen. Übrig bleiben vor allem Kiefern und Fichten. Die sind aber in kälteren Regionen zuhause und schlecht an den Klimawandel angepasst. Oft ruiniert auch der Borkenkäfer gerade die Kiefern- und Fichtenplantagen.

In der Bewirtschaftung unserer Wälder müsste sich ohnehin vieles ändern. Gut, dass man von den Monokulturen der Fichten und Kiefern abrückt. Doch zu diesem Zweck werden in Deutschland seit langem jedes Jahr tausende Wildschweine und über eine Million Rehe erlegt! Die überlebenden Rehe treibt man so vermutlich tiefer in den Wald hinein, wo sie umso mehr Sprösslinge "verbeißen". Bei der Jagd kommt es übrigens auch zu Unfällen mit der Schusswaffe. Bei 4000 Schafen sind wir dagegen verstört. Für den Wolf spricht jedoch die Biodiversität: Je mehr verschiedene Spezies dort heimisch sind, desto stabiler ist das Ökosystem. Eine Million Rehe frisst er natürlich nicht. Aber ihn bitte nicht auch noch abschießen!

Der Herr der Tiere

In der fachlichen Auslegung biblischer Schöpfungstexte geht es manchmal um den sogenannten "Herrn der Tiere". In 1. Mose 1 wird der Mensch mit dem Schöpfungsauftrag zum Herrn der Tiere eingesetzt, über die er herrschen soll. Im längsten biblischen Schöpfungstext dagegen, Hiob 38–41, ist der Mensch gerade nicht Herr der Tiere. Das ist die Pointe: Er beherrscht etwa nicht die Löwin und den Adler – und das ist gut so. Die Bibel diskutiert so die Machtfrage. Nun konfrontiert uns auch der Wolf mit der Frage, ob wir der Herr der Tiere sind. 

Wenn man genauer hinschaut, sind wir oft nicht der Herr der Tiere, obwohl wir es durchaus meinen. Auch Hunde töten zahlreiche Schafe. Einerseits haben wir den Hund unter Kontrolle. Andererseits aber nicht! Im Gegensatz zum Wolf verletzen Hunde manchmal auch Menschen. Als ein Spaziergänger letzten Dezember von einem Hund schwer verletzt wurde, hat man die Schuld beim Wolf gesucht. Sehr vereinzelt töten Hunde sogar Menschen.

Für die Schäfer:innen sind Wolfsübergriffe hart. Aber wie steht es in der breiteren Bevölkerung? Wenn es darum ginge, eine Gefahr zu minimieren, dann würden wir auch die realen Gefahren durch Hunde ernster nehmen. Aber wir beruhigen uns, weil wir uns hier für den Herrn der Tiere halten. Dass wir es in Wirklichkeit nicht sind, ignorieren wir. Hier geht es anscheinend ums Prinzip, nicht um Resultate. Auch in anderen Bereichen dulden wir noch größere Gefahren: Sicherlich würden weniger Menschen verletzt oder umkommen, wenn in den Städten "Tempo 30" gelten würde. Auch bei Jagdunfällen werden Menschen verletzt. Weshalb regt man sich hier nicht auf, fordert aber beim Wolf pauschal eine Abschussquote?

Ausblick

Wir sind bestürzt, dass Wölfe 4300 Schafe reißen. Aber bei einer Million Rehen pro Jahr schauen alle weg. Da wäre es doch besser, im Wald hilft der Wolf, das Ökosystem in Balance zu halten, und wir schießen nicht auch ihn noch ab.

Dass Bauern und Schäfer bestürzt sind, wenn ein Wolf Schafe reißt, ist nicht kleinzureden. Aber seit kurzem können solche einzelnen Übeltäter geschossen werden. Beobachten wir also, ob sich dieses neue System bewährt. Hoffentlich werden auch die Präventionsmaßnahmen immer besser greifen. Doch abgesehen von den einzelnen Schäfern: Eine Million Rehe, aber auch Hund, Straßenverkehr und Jagdunfall zeigen, dass es in der allgemeinen Bevölkerung nicht letztlich um 4300 Schafe geht. Der Wolf ficht unser Selbstbild als "Herr der Tiere" an. Natürlich sollten wir Gefahren minimieren. Aber Pläne, den Wolf abzuschießen, wenn er gar kein Schaf gerissen hat, dienen nicht dieser Gefahrenbekämpfung, sondern dem Selbstbild des Menschen. Wir sollten den Schutz des Wolfes nicht noch weiter herabsetzen.