Wann ist Kritik an Israel Antisemitismus?

Israelische Flagge mit den Farben Blau und Weiß mit einem Davidstern in der Mitte.
Levi Meir Clancy/Unsplash
Die israelische Flagge
Kolumne: Evangelisch Kontrovers
Wann ist Kritik an Israel Antisemitismus?
Die Ansicht, Israel begehe im Gazastreifen einen Völkermord, wird oft als blanker Antisemitismus gebrandmarkt. Ethik-Kolumnist Alexander Massmann fragt sich: Trifft das zu? Wann und weshalb ist Kritik an Israel antisemitisch? Und was ist vom Gazakrieg im jetzigen Stadium zu halten?

Israels Gegenoffensive nach dem 7. Oktober trifft die Zivilisten im Gazastreifen noch immer besonders hart. Zwar konnten israelische Bodentruppen anscheinend zuletzt gezielter gegen Hamas-Kämpfer vorgehen. Unter mutmaßlich 32.000 Toten befinden sich viele Terroristen – aber wohl auch zahlreiche Zivilisten. Unterdessen bombardiert Israel den Süden, obwohl Tausende Palästinenser dorthin geflohen sind.

Die USA haben letzte Woche die Lieferung von 25 Kampfflugzeugen und vielen Bomben besonders schweren Kalibers an Israel freigegeben. Unterdessen droht bis Juli wohl etwa der Hälfte der Zivilbevölkerung im Gazastreifen der Hungertod, sollten weiterhin so wenig internationale Hilfslieferungen im Gazastreifen ankommen.

Die Anschuldigungen, Israel begehe einen Völkermord, dürften spätestens dann lauter werden. Doch weshalb adressiert man die Appelle nicht klarer an die Hamas? Sie hat die jüngere Eskalation mit genozidaler Gewalt an Israel begonnen, hält zahlreiche Israelis in Geiselhaft und könnte der palästinensischen Bevölkerung entscheidend humanitär helfen. Ist also die Kritik, Israel verübe großes Unrecht – vielleicht sogar: einen Genozid – Antisemitismus? Ich meine: manchmal ja. Aber: keineswegs immer! Wie so oft gilt auch hier: genau hingucken!

Der antisemitische Genozid-Vorwurf

Zunächst erscheint die Lage anders. "Rottet Israel die Palästinenser aus?" So fragte etwa die "National-Zeitung" 2003 – zeitweilig das auflagensta?rkste Wochenblatt der deutschen rechtsextremen Szene. Der Antisemitismus verdreht gerne die historischen Tatsachen, woran neulich ein Kommentar zum Genozid-Vorwurf erinnerte. Auch Sascha Lobo schrieb: "Viele plappern die infame, antisemitische Lüge eines ‘Genozids’ an der palästinensischen Bevölkerung nach, die wenig ist außer Holocaust-Verharmlosung." So etwa Lula da Silvas Vergleich der Gaza-Offensive mit der Schoah. Wir verbinden die Schoah mit Gaskammern, Rassenwahn und Mengeles Zwangsexperimenten an lebenden Menschen. Israels Gegenoffensive im Gazastreifen war dagegen eine Reaktion auf die genozidale Gewalt der Hamas am 7. Oktober.

 

Sekundär-Antisemitismus

Der Genozid-Vorwurf gegen Israel lässt sich innerhalb des sogenannten deutschen sekundären Antisemitismus wunderbar verwursten. Zunächst das Syndrom: Der Antisemitismus-Forscher Wolfgang Benz  schildert eindrücklich, wie Deutsche jüdisches Leben in Deutschland oft unsachlich als eine unangenehme Festlegung auf Deutschlands historische Schuld empfinden: "Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen !"

Hier ist der "sekundäre Antisemitismus" eine von vier Erscheinungen des deutschen Antisemitismus, neben dem alten religiös-christlichen Antijudaismus, dem pseudowissenschaftlich-rassistischen Antisemitismus und dem politisch-ideologischen Antizionismus der Linken. (Hinzu käme außerdem noch die eigenartige Spielart des bewundernden Vorurteils: "Die wunderbare Intelligenz haben die Juden einfach im Blut ...")

Im Sekundär-Antisemitismus erinnert die schiere Existenz von Juden in Deutschland viele an Gewalt und Unrecht im Schatten des Nationalsozialismus. Der gekränkte Nationalstolz macht sich an den jüdischen Mitbürger:innen fest. Doch das will der sekundäre Antisemitismus nicht auf sich sitzen lassen. Also machen Deutsche ihren jüdischen Mitbürgern abstruse Vorhaltungen (sie schlügen finanziell Profit aus der Erinnerung an Auschwitz etc.). Liest man, wie Benz aus den Briefen zitiert, die Deutsche an den Zentralrat der Juden schreiben, watet man durch eine Jauchegrube. Eine große Projektion: Einen erhobenen moralischen Zeigefinger, als den man jüdisches Leben in Deutschland wahrnimmt, lässt man sich nicht gefallen. Deswegen richten sich die Deutschen gegen "die Juden", und die scheußlichen Stereotypen brechen hervor.

Aber jetzt kommt’s: Mit dem Nahostkonflikt kann man plötzlich den Spieß umdrehen. Man nimmt "die Juden" nicht mehr in der Rolle des Opfers und der vermeintlichen moralischen Anklage wahr, sondern als Subjekte vermeintlichen Unrechts. Eine dreifache Pauschalierung: als ob "die Juden" in Deutschland (1) mit einem monolithischen "Israel" und "dem" vermeintlichen Unrecht Israels (2) identisch (3) wären. Ohne den vermeintlichen moralischen Zeigefinger, den "die Juden" ansonsten zu verkörpern scheinen, dürfen wir Deutschen endlich wieder stolz sein auf Deutschland – vermeintlich gibt uns "der Nahostkonflikt" endlich die Erlaubnis.

Die Unrechtsfrage bleibt

Doch aus der Tatsache, dass Antisemiten gerne Israel kritisieren, folgt nicht, dass Kritik an Israel immer und an sich antisemitisch ist. Im Munde von manchen macht "Israelkritik" zwar Juden und Israelis zum Kollateralschaden eines unreifen deutschen Selbstverhältnisses, das sich die Abgründe der deutschen Geschichte nicht offen eingestehen kann. Doch die missbräuchliche Kritik bei vielen sagt wenig darüber aus, ob Kritik bei anderen gerechtfertigt ist oder nicht. Vielleicht entstammt Kritik an Israel nicht immer und ausschließlich dem Spektrum von religiösem Antijudaismus, antisemitischem Rassenwahn, dem Sekundär-Antisemitismus oder links-politischem Antizionismus! Auf einer anderen Ebene als diesem Spektrum liegt eine sachliche Wahrnehmung politischer Tatsachen, die ausgewogen bewertet werden sollen.

Zu dieser Wahrnehmung zählt es, dass Israel städtische Ballungsräume im Gazastreifen systematisch mit 900-kg-Bomben bombardiert hat – ein absurd schweres Kaliber, das unkontrolliert hohen Schaden anrichtet. Außerdem hat Israel verschiedentlich diejenigen Orte bombardiert , an die zu fliehen es die Zivilisten gerade angewiesen hatte. Und schließlich weist vieles darauf hin, dass es zur krassen humanitären Ausnahmesituation eines großflächigen Verhungerns kommen dürfte. Die Befreiung weiterer Geiseln gelingt unterdessen anscheinend nicht. Wie es längerfristig zu einer Verbesserung der Sicherheitslage kommen soll, ist wohl auch der israelischen Führung unklar .

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Es bleibt auch die krasse Rhetorik aus israelischen Führungskreisen. Der Staatspräsident Isaac Herzog meinte, die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens trage Schuld am 7. Oktober. Der Verteidigungsminister Yoav Gallant sagte, im Militäreinsatz in Gaza kämpfe man gegen "menschliche Tiere". Dass der 7. Oktober Benjamin Netanyahu zu einem Amalekzitat aus der Bibel  bewegte, als er die israelischen Gegenoffensive beschwor –"Erinnere dich, was Amalek dir angetan hat" –, war zumindest mehrdeutig (vgl. 2 Mose 17,16 ; 5 Mose 25,19 ; 1 Sam 15,2–3 ).

Die Genozid-Frage wird nicht verschwinden

Ich werde hier nicht behaupten, dass Israel Völkermord begeht – darüber enthalte ich mich des Urteils. Ich neige zu der Ansicht, dass es sich beim 7. Oktober in der Tat um einen Genozid handelt. Ob dagegen meine kritischen Hinweise als Beleg eines Genozids Israels ausreichen, vermag ich nicht zu sagen. Zumindest werden die palästinensischen Zivilisten im Konflikt zwischen Israel und Hamas zerrieben.

Klar ist, dass Israels Kriegsführung nicht mit dem Holocaust vergleichbar ist. Viele finden den Vorwurf des Völkermords schon deswegen absurd, weil er nach blutrünstigen, vollkommen korrumpierten Gewaltorgien klingt. Nun ließe sich ein Genozid mit moderner Militärtechnik aber auch auf relativ kühle, chirurgisch-distanzierte Weise durchführen, in der Überzeugung der eigenen Rechtschaffenheit – ohne KZs und Rassenideologie. Dennoch beantworte ich die Frage nach dem Genozid weder mit Ja noch weise ich sie empört als antisemitisch zurück. Aber auch indiskutabel ist sie nicht.

Messen mit zweierlei Maß?

Doch weshalb richtet man die Appelle zur Mäßigung allein an Israel und nicht mit derselben Intensität gegen die Hamas? Wird hier nicht mit zweierlei Maß gemessen? Und sind wir nicht kritischer gegenüber Israel als wir es z.B. gegenüber China sind, was die Behandlung der Uiguren betrifft, oder gegenüber Myanmar/Burma, wenn es um die Misshandlung der Rohingya geht?

Wenn das kritische Einwände gegen eine Kritik an Israel sein sollen, finde ich sie unsinnig. Die Hamas ist eine verbrecherische Organisation. Viele Juristen schätzen den Angriff vom 7.10. als Genozid ein. Appelle an die Hamas wären naiv. Die Hamas ist gewissenlos; dort gibt es niemanden, an den man sinnvollerweise appellieren könnte. Wenn in diesem Konflikt jemand für die Stimme der Vernunft zugänglich sein soll, dann muss es Israel sein.

Verbundenheit und Kritik

Wie steht es mit der Frage, ob Deutsche im Vergleich auf Probleme in anderen Ländern (etwa Myanmar/Burma) ähnlich kritisch reagieren? Natürlich hat Israel ein legitimes Sicherheitsinteresse. Gegenüber terroristischen Organisationen muss man Israel teilweise militärische Mittel zugestehen. Aber: Ja, selbstverständlich messe ich hier mit zweierlei Maß! Denn Israel ist ein fester Teil der westlichen Wertegemeinschaft. Die Staatsgründung war mit deutscher Gewalt eng verbunden. Die deutsche Politik sieht sich verpflichtet, zur Sicherheit Israels beizutragen. Mit kaum einem anderen Land kooperieren die EU und die USA derart eng oder derart lang wie mit Israel. Kein anderes Land profitiert stärker zum Beispiel von amerikanischen Hilfsleistungen. Im EU-Israel-Assoziierungsabkommen (2000) legen sich die Partner ausdrücklich auf die Achtung von Menschenrechten und demokratischen Prinzipien fest.

Es wäre sonderbar, wenn das moralische Verhältnis der Deutschen zu Israel unparteilich wäre oder dasselbe wie zu irgendeinem x-beliebigen Land. Dass sich Deutsche schon vor dem 7. Oktober zu Israel kritischer verhalten als etwa zu Myanmar, finde ich teilweise legitim. Verbundenheit muss die Möglichkeit klarer Kritik umfassen, solange sie sachlich bleibt. Bei einem Fehlverhalten kann ich einen Freund nicht nur klarer und eher kritisieren als einen flüchtigen Bekannten – ich bin es ihm unter Umständen sogar schuldig, um der Freundschaft willen. Dagegen ist die Kritik der Antisemiten an Israel aus dem Grunde illegitim, dass sie auf dem Boden des Ressentiments steht. Militärische Gewalt durch Israel ist nicht unbedingt unmoralisch, solange es antisemitischen Terror gibt. Was aber nicht geht, ist der systematische Einsatz von absurd schweren XL-Bomben in städtischen Ballungszentren und das Verhungern großer Teile der palästinensischen Bevölkerung.