TV-Tipp: "Tatort: Zerrissen"

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21.Januar, ARD, 20:15 Uhr
TV-Tipp: "Tatort: Zerrissen"
Der Titel ist treffend für diesen "Tatort" aus Stuttgart, denn David, gerade 13 Jahre alt und schon ein Verbrecher, ist nicht als einziger hin und her gerissen: Auch das Ermittlerduo ist sich uneins.

"Wenn du die Familie aufgibst, bist du tot", sagt der Vater, und damit bringt er das Dilemma seines Sohnes auf den Punkt. David ist dreizehn und schon ein Verbrecher: Er stand bei einem Überfall seiner beiden Cousins und seiner Schwester auf ein Juweliergeschäft Schmiere. Weil er die anderen nicht rechtzeitig warnen konnte, bevor eine Kundin den Laden betrat, hat er zumindest die Tür zugehalten, sodass die Frau nicht mehr raus konnte; nun ist sie tot.

Das wollte David zwar nicht, aber seine Loyalität zu den Vettern kann das trotzdem nicht erschüttern. Die ungleich wichtigere Person in seinem Leben ist jedoch seine Betreuerin auf dem Jugendhof, für sie würde er durchs Feuer gehen, und zumindest im übertragenen Sinn kommt genau das auf ihn zu. 

 

Lannert und Bootz (Richy Müller, Felix Klare) haben keinen Zweifel daran, dass das jugendliche Trio für den Überfall verantwortlich ist, weil die drei eine ähnliche Tat schon einmal begangen haben. Weil David eindeutig das schwächste Glied in der Kette ist, will Lannert den Jungen unter Druck setzen. Bootz hat Skrupel, auch aus moralischen Gründen, aber vor allem wegen Annarosa Neuffer (Caroline Cousin). Die selbstbewusste junge Sozialarbeiterin hat ihn schwer beeindruckt, was allerdings nicht auf Gegenseitigkeit beruht, denn aus ihrer Sicht ist der Kommissar bloß Befehlsempfänger und somit Repräsentant eines Systems, das sie ablehnt. Zu David, dem sie ein Alibi gibt, hat sie volles Vertrauen. Sie will ihm helfen, den unheilvollen Einfluss seiner Familie hinter sich zu lassen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Als er ihr gesteht, was er getan hat, ist auch ihre Zuversicht erschüttert. Für David kommt es allerdings noch schlimmer: Es gab einen Zeugen des Überfalls, einen afrikanischen Dealer, den die beiden Vettern entführen; und der Junge soll ihn zum Zeichen seiner Loyalität erschießen. Es schwingt also nicht nur unterschwellig viel Drama mit in dieser Geschichte von Martin Eigler (auch Regie) und Sönke Lars Neuwöhner. Umso wichtiger war die Besetzung der Episodenhauptfigur.

Mit Louis Guillaume ist ein echter Glücksgriff gelungen, weil es ihm nahezu perfekt gelingt, die Rolle in der Schwebe zu halten, zumal er den Jungen mit den weichen Gesichtszügen nicht als zornigen Teenager, sondern sehr zurückhaltend verkörpert. Eine kleine, aber wirkungsvolle Idee sorgt dafür, dass David noch verletzlicher wirkt: Er hat regelmäßig Visionen seines älteren Bruders Theo, der bei einem illegalen Autorennen ums Leben gekommen ist. Manchmal beschert ihm seine Fantasie auch kleine Glücksmomente, denn natürlich ist er heimlich in seine Betreuerin verliebt.

Lannert will sich den Einwänden des Kollegen zum Trotz die Bewunderung für den verstorbenen großen Bruder zunutze machen, um den Jungen aus der Umklammerung der Familie zu befreien: Theo (Levin Rashid Stein) hat für die Polizei gearbeitet und darum gebeten, ihn und David ins Zeugenschutzprogramm aufzunehmen, aber weil behördliche Mühlen langsam mahlen, ist er vorher gestorben. "Das Schicksal war schneller", kommentiert die zuständige Kollegin vom LKA bedauernd. 

Ähnlich sehenswert wie Guillaume ist Caroline Cousin, die bei früheren "Tatort"-Auftritten gewissermaßen noch auf der anderen Seite stand: zuletzt als eine von drei Freiburger Jugendlichen, die sich in der Hoffnung auf schnelles Geld mit Gangstern eingelassen haben ("Das geheime Leben unserer Kinder", ebenfalls vom SWR), davor und sehr intensiv als Systemsprengerin mit umfangreicher Jugendamtakte in einem Krimi aus Kiel, "Borowski und die große Wut" (NDR, beide 2023). Schade, dass ausgerechnet Oleg Tikhomirov, kürzlich in einem "Tatort" aus Köln ("Pyramide", 2024) noch sehr überzeugend, als Anführer des Trios mit kurzer Zündschnur zuweilen übers Ziel hinausschießt. Nils Hohenhövel legt den zweiten Cousin deutlich ruhiger an, sodass sich die beiden Brüder immerhin gut ergänzen.

Auch Urs Rechn wirkt als Davids inhaftierter Vater bedrohlicher, wenn er mit leisen Tönen arbeitet, zumal dies auch viel mehr dem Stil entspricht, in dem Eigler das Drehbuch umgesetzt hat: Vom fesselnden Auftakt und einer kurzen Verfolgungsjagd über ein Gerüst abgesehen ist "Zerrissen" ein eher stiller Krimi und ohnehin vor allem ein Jugenddrama, durchaus sehenswert zwar, aber weder so originell noch so fesselnd wie die sonstigen Krimis aus Stuttgart.