Es sieht ziemlich spektakulär aus, wenn die vom Lenkdrachen gezogenen Männer und Frauen plötzlich mit ihren Surf-Brettern abheben und durch die Luft gleiten. Tatsächlich kann dieser Sport jedoch durchaus gefährlich sein, weil die Landungen auch mal weniger elegant verlaufen. Je nach Höhe wirkt die Wasseroberfläche dann wie Beton, weshalb es regelmäßig zu mitunter schweren Unfällen kommt.
Ein solches Schicksal hat auch einen spanischen Profi ereilt, allerdings gibt er die Schuld einem jungen Mann aus Sylt, von dem er nun Schmerzensgeld haben will. Der Spanier ist nicht der einzige, mit dem Tom (Anton Rubtsov) Ärger hat. Sehr zum Unmut ihres Freundes Jan ist Biobauerntochter Lena (Lieselotte Voß) seit einiger Zeit dauernd am Strand, und das nicht nur wegen des Kite-Surfens: Für Tom hat es zwar nicht zur Profikarriere gereicht, aber auf Sylt ist er ein Star. Seiner Aura von Freiheit und Abenteuer konnte Lena offenbar nicht widerstehen, weshalb sich Jan (Jonathan Walz) ordentlich echauffiert, als Tom die junge Frau zu einem waghalsigen Flug anstachelt. Der Tote, der am nächsten Morgen im Watt entdeckt wird, ist jedoch Pablo, der Spanier; und Lena gibt Tom ein Alibi.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
So weit die Krimiebene, die zwar von den jungen Mitwirkenden ausnahmslos gut gespielt, aber auch nicht weiter aufregend ist. Sehenswert wird "Sievers und der Traum vom Fliegen" (Episode Nummer 22), weil es wieder mal großen Spaß macht, dem Kripotrio zuzuschauen; und vor allem zuzuhören. Ein dreiköpfiges Drehbuchtrio (Marc Rensing, Sven Petersen, Berno Kürten) ist oft kein gutes Zeichen, aber die Mischung stimmt, was vor allem an zwei Einfällen liegt. Beide bieten Oliver Wnuk Gelegenheit, Feldmanns Nimbus als Hassliebefigur gerecht zu werden: Im Grunde ist er für den Posten auf Sylt überqualifiziert, aber dass er das auch gern raushängen lässt, macht ihn nicht gerade sympathisch; außerdem erweist er sich des Öfteren als reichlich kleingeistig.
Andererseits sichert dem Kommissar schon allein die hartnäckig vergebliche Liebesmüh’ um Ina Behrendsen (Julia Brendler) ein gewisses Mitgefühl, von den gelegentlichen Missgeschicken ganz zu schweigen: Wenn sich der schmollende Feldmann anlässlich seines Geburtstags ein großes Eis spendiert, fällt es ihm prompt in den Sand. Eine zweite Ebene beschert Wnuk einen Auftritt ganz anderer Art. Weil die Surfer nicht wissen, das Feldmann Polizist ist, macht Behrendsen dem Kollegen ein Präsent mit Hintergedanken: Sie schenkt ihm einen Kite-Surfer-Kurs. Die Szene, in der er vom Brett fällt und durchs Wasser gezerrt wird, wirkt ziemlich authentisch. Dass Surf-Lehrer Mats (Nico Rogner), Toms Arbeitgeber, ein früherer Verflossener von Ina ist, gibt den Begegnungen der beiden Männer eine zusätzliche Würze. Als sich ein weiterer Todesfall ereignet, kommt Lena wieder ins Spiel.
"Sievers und der Traum vom Fliegen" ist der erste Fernsehkrimi des 2016 mit dem "Studenten-Oscar" ausgezeichneten Regisseurs Alex Schaad. Sein Langfilmdebüt war das zu Beginn des Jahres in den Kinos gestartete Drama "Aus meiner Haut" mit Mala Emde, ein anspruchsvolles Gegenstück zu den beliebten Körpertausch-Komödien. Die Inszenierung seiner TV-Premiere ist zwar sorgfältig, hat allerdings längst nicht den Esprit der Dialoge zwischen Brix, Wnuk und Brendler. Gerade die Revierszenen, in vielen Filmen dieser Art oft eintönig und allein der Informationsvermittlung dienend, sind ein Vergnügen.
Das Kern-Ensemble ist ohnehin grundsätzlich sehenswert, aber Schaad lässt sie nicht nur von den Dialogen profitieren: Wenn Sievers mit Lena spricht, scheint er ihr förmlich in die Seele zu schauen; Behrendsen wiederum bedenkt den beim Telefonat mit einer spanischen Kollegin kräftig Süßholz raspelnden Feldmann mit einem Blick, der die Temperatur im Büro um einige Grad senkt.
Ein besonderes Vergnügen sind auch die kleinen Auftritte von Stephan A. Tölle als Polizist Schneider. Eher überflüssig ist allein die private Ebene von Sievers. Der Hauptkommissar, der sich stets perfekt im Griff hat, sieht seine Freundin mit einem fremden Mann und reagiert ungewohnt eifersüchtig, was jedoch wie ein Vorwand wirkt, um Victoria Trauttmansdorff ins Spiel zu bringen. Sehr originell ist dagegen eine Variation der Schlussszene, in der traditionell die Fallnotizen auf der Revierwand überstrichen werden.