Das Internet vergisst nicht. Deshalb findet Mobbing unter Jugendlichen mittlerweile in gänzlich anderen Dimensionen statt als in der Kindheit heutiger Eltern. Es war schon früher eine Qual, wenn Kinder gepiesackt, drangsaliert oder gehänselt wurden; aber irgendwann war das vorbei. Das gilt nicht mehr: Wenn peinliche Videos oder falsche Behauptungen ins Netz gestellt werden, bleiben sie dort; mutmaßlich für immer.
Schulen sind mit dem Thema nicht zuletzt aus Zeitgründen meist überfordert. Wie das im Alltag aussehen kann, beschreibt der zweite Film aus der neuen ARD-Freitagsreihe mit ChrisTine Urspruch als Rechtsanwältin. Nicht nur wegen der Alltagsnähe ist "Unter Vätern" weitaus gelungener als der darstellerisch nicht rundum überzeugende und zudem ziemlich konstruiert wirkende Auftakt.
Dabei sind die Verantwortlichen in beiden Fällen identisch: Das Drehbuch stammt erneut von Produzent Torsten Lenkeit, Regie führte Thomas Freundner.
Natürlich bildet die Romanze zwischen Eva Schatz und ihrem Kollegen Hanno Bertram (Wolfgang Grandezka) erneut den Rahmen der Handlung. Diesmal spielt sich zudem Lola Höller als Hannos Tochter in den Vordergrund. In "Ein Fall von Liebe" war fünfzehnjährige Lilly in erster Linie auf die Rolle des pubertierenden Trotzkopfs reduziert, der auf Vaters Gefühle für Eva mit feindseliger Eifersucht reagiert. Diesmal integriert Lenkeit sie clever in die Episodenhandlung: Lilly wird Zeugin, wie ein Mitschüler von einem anderen derart heftig gegen einen Pfosten gestoßen wird, dass er eine klaffende Kopfwunde davonträgt. Die beiden Jungs geraten ohnehin ständig aneinander, genauer gesagt: Der eine hat den anderen auf dem Kieker.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die Hintergründe bleiben offen; es gibt diese Typen, die sich willkürlich ein Opfer rauspicken, das sie dann fertig machen. Eva Schatz kommt ins Spiel, weil sich die Mutter (Henrike von Kuick) des schikanierten Jungen scheiden lassen will. Ein wichtiger Grund für die Trennung ist das Verhalten des Gatten (Oliver Bröcker) in der Mobbing-Sache: Der Vater spielt die Vorfälle runter und empfiehlt seinem Sohn, sich tatkräftig zu wehren, dann sei die Sache erledigt.
Sachlich schildert der Film nun den juristischen Lauf der Dinge. Eva rät den Eltern, die Schule wegen massiver Vernachlässigung der Fürsorgepflicht zu verklagen: Der Klassenlehrer hat den Vorfall runtergespielt, die Rektorin hatte offenbar keine Lust auf den bürokratischen Aufwand; eigentlich müssen solche Fälle dem Schulamt gemeldet werden. Tatsächlich nehmen viele Schulen das Thema jedoch sehr ernst.
Damit die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit noch größer wird, inszeniert Freundner die Dame übertrieben als ältliche und ignorante Frau; das wirkt wie Fernsehen für Begriffsstutzige. Umso erfreulicher ist die Zivilcourage von Lilly, die bereit ist auszusagen, obwohl ihr die beste Freundin davon abrät und klar ist, dass sie sich den einflussreichen Mobber damit zum Feind machen wird. Dem Verhältnis zwischen der Tochter und der neuen Freundin des Vaters tut es allerdings ziemlich gut, dass beide nun auf derselben Seite stehen; auch wenn Lilly betont, es handele sich nur um einen Waffenstillstand. Lola Höller profitiert sichtlich vom größeren Spektrum ihrer Rolle und macht ihre Sache ausgezeichnet.
Lustig ist das alles natürlich nicht. Für Heiterkeit sorgt daher in erster Linie Jochen Busse als Evas Vater, der im Seniorenheim zur heimlichen Pokerrunde in den Keller lädt. Als dem alten Herrn Ärger droht, wendet er sich an Hanno. Weil er das Mandat mit der strikten Auflage verbindet, Eva nichts von seinem Problem zu erzählen, gerät der Anwalt in ein Loyalitätsdilemma, schließlich hat sich das Paar gegenseitig versichert, Vertrauen sei die Basis der Beziehung. Warum der alte Schatz juristischen Beistand braucht, enthüllt Lenkeit erst gegen Ende. Der vermeintliche Knüller verpufft allerdings, weil ohnehin klar ist, was das weibliche Mitglied der Pokerrunde dem ehemaligen General vorwirft.
Davon abgesehen wirkt "Unter Vätern" inhaltlich viel mehr aus einem Guss als "Ein Fall von Liebe". Erneut sehr sympathisch ist vor allem der Umstand, dass der Längenunterschied nie ein Thema zwischen Eva und Hanno ist. Natürlich spielt die Körpergröße trotzdem eine Rolle, wenn er beispielsweise in ihrem Bad auf die Knie gehen muss, um sich im Spiegel zu betrachten. Sehr amüsant sind auch die von ChrisTine Urspruch trocken vorgetragenen Selbstironien, und zum Finale auf einem Ausflugsboot wird es im Rahmen einer Dragqueen-Party richtig rührend.