Schere, Klebstoff und ein Kopierer: Mehr brauchte es vor gut dreißig Jahren nicht, um sich einen Milliardenbetrag zu erschwindeln. Die Masche war simpel: Das Unternehmen bekam einen Auftrag. Um in Vorleistung gehen zu können, benötigte es einen Bankkredit. Da sich die Bank mit einer Kopie der Auftragsbestätigung begnügte, genügte eine winzige Veränderung des Originals, um zum Beispiel aus einer fünfstelligen eine sechsstellige Summe zu machen. Mit dem auf diese Weise ergaunerten Betrag wurden frühere Schulden bezahlt.
Theoretisch hätte die Masche der Balsam AG aus Steinhagen bei Bielefeld, ein damals weltweit gefragtes Unternehmen für Sportböden ("Wir bereiten dem Sport den Boden"), noch eine Weile so weitergehen können, doch ein Mitarbeiter konnte die Machenschaften offenbar nicht mit seinem Gewissen vereinbaren und spielte der Staatsanwaltschaft Bielefeld im November 1992 umfangreiche Beweise zu; aber seltsamerweise blieb die Behörde untätig.
Der Betrug zählt bis heute zu einem der größten deutschen Wirtschaftsverbrechen. Natürlich hat es einen Grund, dass der WDR die Geschichte für die Dokumentation "Das Milliardending" wieder ausgegraben hat: Die Ähnlichkeiten zum Fall Wirecard sind offenkundig. Im digitalen Zeitalter ist bei dem Unternehmen aus Aschheim bei München zwar nicht mehr mit dem Klebestift hantiert worden, doch die 2020 aufgeflogenen Betrügereien des Zahlungsabwicklers funktionierten ganz ähnlich.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Frappierend sind auch die personellen Parallelen: Der zuvor geständige und deshalb aus der Untersuchungshaft entlassene Hauptangeklagte im Balsam-Prozess, Buchhalter Klaus-Detlev Schlienkamp, verschwand 1998 kurz vor der Urteilsverkündung spurlos; ebenso wie Wirecard-Vorstandsmitglied Jan Marsalek gut zwanzig Jahre später. Der Wirecard-Vorstandsvorsitzende Markus Braun beteuert seine Unschuld ebenso wie einst Balsam-Gründer Friedel Balsam.
Anders als der mutmaßlich in Russland untergetauchte Marsalek fand Schlienkamps Flucht jedoch ein abruptes Ende; und jetzt wird Simone Schillingers Film zum Krimi. Hauptfigur ist nun Karl-Heinz Wallmeier, pensionierter Kriminalhauptkommissar und damals bei der Bielefelder Polizei Leiter der Abteilung Wirtschaftskriminalität. Die Neugier des Beamten ist bereits geweckt, als der Oberstaatsanwalt die Ermittlungen gegen die Balsam AG abblockt: "Irgendwas stimmt da nicht." Als der anonyme Informant weitere Hinweise liefert, fährt Wallmeier auf eigene Faust ins Elsass, um dort zu recherchieren. Er findet raus, dass der bewilligte Kredit für den Bau einer Sportanlage um das Sechzigfache über den eigentlichen Kosten lag.
Endlich nehmen die Dinge ihren Lauf, am Landgericht Bielefeld kommt es zum Prozess gegen Schlienkamp, Balsam und weitere Beteiligte, bis der Hauptangeklagte eines Tages nicht mehr zur Verhandlung erscheint: Anscheinend ist er mit seinem Auto nach Cuxhaven gefahren und dort ins Wasser gegangen. Spätestens jetzt offenbart sich das Spielfilmpotenzial der Dokumentation, denn nun beginnt eine Jagd um den halben Erdball: weil Wallmeier getreu seiner Devise "Nie aufgeben, wenn man sich seiner Sache sicher ist" nicht locker lässt.
Wie immer bei TV-Sendungen über Wirtschaftsverbrechen stand auch Schillinger vor der Herausforderung, ihren Film angemessen zu bebildern. Dass sich Wallmeier als Zeitzeuge zur Verfügung stellte, war schon mal die halbe Miete. Für weitere Hintergrundinformationen sorgen Journalistinnen, die sich für eine regionale Tageszeitung und einen Lokalsender intensiv mit dem Fall und mit Schlienkamp beschäftigt haben. Auf Dauer ist es jedoch natürlich eintönig, wenn eine Dokumentation nur aus Erzählungen sowie Ausschnitten aus zeitgenössischem Fernsehmaterial besteht, also hat die Autorin einige Ereignisse szenisch rekonstruiert; clever wird die Sicht zu Beginn beim vermeintlichen Suizid durch einen Balken verstellt. Im klassischen Dokumentarfilm ist dieses Stilmittel zwar verpönt, doch es sorgt für Abwechslung. Eine Reise auf die Philippinen beschert dem Film zudem exotische Bilder, zumal sich die Behörden heute ähnlich kooperativ verhalten wie damals bei Wallmeiers Suche nach dem Finanzchef der Balsam AG.
Bei aller Kurzweiligkeit gibt es dennoch einen Kritikpunkt: Schillinger rollt den Fall zwar umfassend auf, aber der Vergleich mit Wirecard kommt viel zu kurz. Eine Bemerkung zu Beginn, eine weitere zum Schluss: Das war’s. Dabei wäre es doch gerade interessant zu erfahren, welche Schlussfolgerungen sich aus diesem Betrug hätten ziehen lassen, um ähnliche Delikte zu verhindern.