Nachbarstochter Mara ist zwar kaum älter, kleidet sich für einen jungen Teenager jedoch viel zu sexy. Kein Wunder, dass die behütet aufgewachsene Doreen zutiefst beeindruckt ist; bald trägt auch sie bauchfreies Top und auffälligen Lidschatten. Aber Mara ist ein böses Mädchen, das die unschuldige neue Freundin auf ihre dunkle Seite lockt und zu immer neuen düsteren Taten verführt.
Auf dieser Ebene ist "Die Saat", der zweite Langfilm von Mia Meyer, die zuletzt zwei Episoden zur Netflix-Serie "Transatlantic" beigesteuert hat, ein typisches Jugenddrama, doch die Regisseurin sowie Lebensgefährte und Koautor Hanno Koffler erzählen zudem eine ähnlich bedrückende zweite Geschichte. Der Film hüpft Szene für Szene zwischen den beiden Handlungssträngen hin und her: Doreens Vater Rainer (Koffler), ein braver Fliesenleger, hat sich in seiner Firma nach vielen Jahren zum Bauleiter eines Prestigeprojekts hochgearbeitet. Aber die Zeiten haben sich geändert, für Juniorchef Klose (Robert Stadlober) zählen nicht mehr die Werte des Vaters, sondern die des Marktes. Als sich beim Bau des Musterhauses die Pannen häufen, engagiert Klose einen erfahrenen Bauleiter (Andreas Döhler).
Der an den Zwischenfällen völlig unschuldige Rainer ist jetzt bloß noch Polier. Damit könnte er vermutlich leben, aber die Familie ist kürzlich aus der Stadt in einen Vorort gezogen, weil sie ihre Mietwohnung räumen mussten. Das gekaufte Haus ist allerdings dringend renovierungsbedürftig; im Grunde verbringt Rainer sein Dasein auf zwei Baustellen, weil er nach Feierabend am Eigenheim arbeitet.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Durch die Degradierung bekommt er weniger Geld, ständig sind neue Rechnungen und Mahnungen im Briefkasten, die Bank sperrt das Konto, es kommt fast zwangsläufig zur ehelichen Krise, zumal sich bei der schwangeren Gattin Nadine (Anna Blomeier) Komplikationen ergeben. Anfangs nimmt es das Paar noch mit Humor, wenn bei der Renovierung wieder mal was schiefgeht, doch schließlich müssen die beiden erkennen, dass ihnen das alles über den Kopf wächst. Kein Wunder, dass sie nichts von den Doreens Problemen mitbekommen, obwohl Vater und Tochter ein inniges Verhältnis haben.
Der Titel weckt die Assoziation zum Schulklassiker "Die Saat der Gewalt" (USA 1955), und tatsächlich hatten Meyer und Koffler zunächst einen Film über die Entstehung von Gewalt im Sinn. Während der Entwicklung des Drehbuchs kristallisierte sich jedoch mehr und mehr Druck als zentrales Thema heraus.
Das gilt vor allem für Rainer, der am Arbeitsplatz eine Demütigung nach der anderen schlucken muss und daheim zumindest zunächst dennoch unverdrossen Zuversicht verbreitet. Seine Gemütslage vermittelt sich vor allem akustisch: Die Dissonanzen auf der Tonspur verdeutlichen, dass es in ihm drin ganz anders aussieht. Seinen Frust lässt er schließlich ausgerechnet an Doreen aus, dabei hätte das zunehmend vereinsamende Mädchen gerade jetzt viel Zuspruch nötig.
Die beiden Geschichten wären schon für sich genommen interessant, aber die durchgehende Parallelmontage zwischen den Handlungssträngen beschert dem Film eine zusätzliche Spannung, die sich mehr und mehr zuspitzt, weil beide, Rainer und Doreen, in einer fatalen Abwärtsspirale stecken: Der neue Bauleiter, der sich anfangs noch kollegial gegeben hat und seinerseits unter einem emotionalen Druck ganz anderer Art steht, schikaniert die Arbeiter zunehmend, und Mara (Lilith Julie Johna) hat sich mittlerweile von einer Freundin zur Feindin gewandelt, sodass beide Ebenen schließlich in ein gewalttätiges Finale münden.
Die optische Umsetzung ist solide, aber nicht weiter bemerkenswert. "Die Saat" hatte zwar eine überschaubare Kinoauswertung, ist im Fernsehen jedoch gut aufgehoben. Große Bilder hat der Film nicht zu bieten, auffällig sind allein die gelegentlichen Zeitlupensequenzen, wenn Doreen beispielsweise beim Reiten ganz bei sich ist. Die Kamera (Falko Lachmund) ist meist nah bei den Figuren, weshalb gerade die Leistung von Dora Zygouri umso höher zu bewerten ist: Die junge Darstellerin verkörpert ihre Rolle bemerkenswert gut, zumal sie dabei ähnlich sparsam und dennoch intensiv agiert wie ihr über weite Strecken vor allem nach innen spielender väterlicher Filmpartner.