epd: Teile der Klimabewegung wie die "Letzte Generation" sind schon mit einer quasireligiösen Endzeitsekte verglichen worden, die Apokalypseszenarien an die Wand malt. Teilen Sie diese Einschätzung?
Simon Teune: Ich finde diese Einordnung befremdlich. Zentrale Definitionskriterien einer Sekte, religiöse Erlösungsvorstellungen und eine hohe Austrittsschranke, sehe ich bei der "Letzten Generation" nicht. Eine apokalyptische Überhöhung der Klimakrise kann man der "Letzten Generation" auch nur vorwerfen, wenn man den Stand der Wissenschaft nicht zur Kenntnis genommen hat. Das heißt nicht, dass man die "Letzte Generation" von Kritik aussparen muss. Sie ist über das A22-Netzwerk mit Roger Hallam (Anmerkung der Redaktion: Mitbegründer von Extinction Rebellion) verbunden, der die Zukunft in einer ungebremsten Klimakrise mit dem Holocaust verglichen hat. Und sie scheint davon auszugehen, dass sie mit den Straßenblockaden politische Entscheidungen erzwingen kann. Da bin ich skeptisch.
Mit der Industrialisierung entsteht im 18. Jahrhundert in Europa und den USA als Gegenbewegung ein neues, philosophisch, auch romantisch aufgeladenes Welt- und Naturverständnis. Knüpft die "Letzte Generation" an diese Gegenströmung zu Rationalismus und naturwissenschaftlichem Fortschritt der Industrialisierung an?
Teune: Auch diese Einordnung ist für mich schwer nachvollziehbar. Auch wenn naturwissenschaftliches Wissen in der öffentlichen Kommunikation der Gruppe weniger im Vordergrund steht als bei "Fridays for Future", stehen auch viele Aktivistinnen und Aktivisten der "Letzten Generation" voll im Stoff und sie geben dieses Wissen in Workshops weiter. Ich sehe hier keinen neuen Irrationalismus, sondern eine stärkere Ansprache der Emotionen, die mit der Klimakrise verbunden sind. Dieser Ansatz lässt sich durchaus als Ergänzung des wissensbasierten Transformationsansatzes der "Fridays for Future" verstehen.
"Ich sehe hier keinen neuen Irrationalismus, sondern eine stärkere Ansprache der Emotionen, die mit der Klimakrise verbunden sind."
Fördert die Klimabewegung eine Moralisierung der Politik und erschwert sie damit Lösungsansätze?
Teune: Im Moment verbreitet die Politik die Hoffnung, dass die Menschen in Deutschland möglichst lange an ihrem bisherigen Leben festhalten können, anstatt auf eine vorausschauende Klimapolitik zu setzen. Nur dadurch könnten aber die absehbar großen Schäden durch die Klimakrise für Menschen in anderen Regionen der Welt und in der - durchaus nahen - Zukunft, abgemildert werden. Diese Prioritäten sind zutiefst unmoralisch.
Sollte die "Letzte Generation" Ihres Erachtens künftig Straßenblockaden unterlassen, "gefälliger" agieren, um bei den Bürgerinnen und Bürgern für ihr Anliegen zu werben?
Teune: Ich denke nicht, dass die Klimabewegung meinen Rat braucht. Die Straßenblockaden haben den zentralen Konflikt der Klimapolitik sichtbar gemacht: Abstrakt sind alle - bis auf die AfD - für den Klimaschutz. Aber gleichzeitig möchte man möglichst nichts damit zu tun haben. Die Politik lässt den Menschen diese Illusion und erklärt die Klimabewegung zum Problem. Die Klimawissenschaft spricht eine klare Sprache: die Weichen für ein Leben, das die Klimakrise nicht noch weiter zuspitzt, müssen jetzt gestellt werden. Sonst drohen Entwicklungen, die das Leben der Menschheit grundlegend bedrohen, die Konflikte verschärfen und Ökosysteme unwiederbringlich zerstören. Womit wir wieder bei den apokalyptischen Vorstellungen wären. Dieser Realität stellt sich die Bundesregierung nicht. Und es gibt leider auch keine wissenschaftliche Erkenntnis darüber, welche Form von Protest geeignet ist, den Schalter umzulegen. Es ist nur relativ sicher, dass es nicht eine Protestform gibt, die der Königsweg ist.