Wenn ein Film solange dauern darf, muss es sich um ein Meisterwerk handeln; es sei denn, niemand hat sich getraut, dem Regisseur zu sagen, dass 120 Minuten auch genügen würden. Tatsächlich gibt es viele Szenen, denen eine Kürzung gut getan hätte. Außerdem muss sich sein in den frühen Dreißigerjahren angesiedeltes Drama an der mit allen wichtigen Fernsehpreisen ausgezeichneten Serie "Babylon Berlin" messen lassen, selbst wenn das nicht fair ist, weil die Macher der TV-Produktion offenkundig mehr Geld ausgeben konnten. Grafs erste Kinoarbeit seit dem Schiller-Drama "Die geliebten Schwestern" (2014) wird zwar ebenfalls nicht billig gewesen sein – allein die Fördersumme beträgt insgesamt über eine Million Euro –, aber die Besonderheit, die Intensität und die visuelle Wucht von "Babylon Berlin" erreicht sein Film nur in wenigen Momenten.
Sehenswert sind allerdings die schauspielerischen Leistungen. Das gilt vor allem für Tom Schilling in seiner Rolle als Jakob Fabian. Der promovierte Germanist ist auch mit Anfang dreißig immer noch auf der Suche nach dem richtigen Weg ins Leben. Als er die Bardame Cornelia (Saskia Rosendahl) trifft, scheint er sein Glück gefunden zu haben. Die junge Frau arbeitet tagsüber in der Rechtsabteilung der Universum Film, hofft aber darauf, als Schauspielerin entdeckt zu werden. Sie ist bereit, dafür einen Preis zu zahlen, mit dem Fabian nicht leben kann. Er beendet die Beziehung, womit allerdings schlagartig auch jede Freude aus seinem Dasein entschwindet.
Als sich sein bester Freund (Albrecht Schuch) eine Kugel in den Kopf schießt, weil er ein Opfer der sich anbahnenden "neuen Ordnung" geworden ist, gibt es für Fabian keinen Grund mehr, am Leben zu bleiben; zumindest nicht in Berlin, wo sich mehr und mehr die braunen Horden breit machen. Das tragische Ende der Geschichte ist doppelt schmerzlich, weil sich kurz zuvor ein zarter Hoffnungsschimmer angedeutet hat.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Anders als Wolf Gremms Verfilmung aus dem Jahr 1980 orientiert sich das Drehbuch (Graf und Constantin Lieb) nicht an der 1931 erschienenen Version, sondern an Kästners Originalfassung. Sein Verlag hat das autobiografisch gefärbte Buch damals politisch und erotisch entschärft. Außerdem wurde der ursprüngliche Titel "Der Gang vor die Hunde" durch den Zusatz "Die Geschichte eines Moralisten" ersetzt. Grafs "Fabian" hingegen ist stellenweise recht saftig. Gerade die fellinesken Szenen in den Bordellen und Nachtclubs mit ihren zum Teil skurrilen und bühnenhaft übertrieben verkörperten Figuren ufern jedoch regelmäßig aus. Für die Geschichte ist diese Ausführlichkeit völlig unnötig.
Gleich zwei Erzählstimmen (Joachim Nimtz, Jeanette Hain) geben regelmäßig ganze Passagen aus dem Roman wieder, beschreiben dabei mitunter aber bloß, was der Film ohnehin zeigt. Die gelegentlichen irritierenden Kamerakapriolen (Bildgestaltung: Hanno Lentz) wiederum haben keinen offenkundigen Bezug zur Handlung, und die Musik (Florian van Volxem, Sven Rossenbach) klingt zuweilen unnötig kakophonisch. Lentz hat im Format 4:3 gedreht, auf diese Weise konnte Graf regelmäßig zeitgenössische Schwarzweißaufnahmen integrieren.
Zwischendurch wählt er auch mal die Stilmittel eines Stummfilms; das ist immerhin verblüffend. Ganz anders verhält es sich mit den kleinen Momenten, die er buchstäblich als "Stolpersteine" integriert hat; in einer Szene laufen die Mitwirkenden tatsächlich über solche vor einen Hauseingang in den Bürgersteig eingelassenen Gedenktafeln, die an die Jugendverfolgung erinnern. Schon der Auftakt des Films ist eine faszinierende Zeitreise: Die Kamera schwebt in der Gegenwart in eine unterirdische S-Bahnstation, und als sie auf der anderen Seite wieder auftaucht, schreibt der Film das Jahr 1931.
Es sind nicht zuletzt diese Einfälle, die "Fabian" doch zu einem großen Werk machen. Der Verzicht auf optische Opulenz soll die Konzentration auf die Mitwirkenden verstärken, und die sind in der Tat der Hauptgrund, drei Stunden lang auszuharren. Schilling (Jahrgang 1982) ist zwar ähnlich wie Hans Peter Hallwachs in Gremms Verfilmung im Grunde zu alt für die Rolle, wirkt aber jung genug, um Fabians fast schon teenagerhafte Schwärmerei für Cornelia glaubwürdig zu verkörpern; in den entsprechenden Szenen hat der Film die Leichtigkeit einer romantischen Komödie. Gleichzeitig versieht der Schauspieler die Titelfigur mit einer Melancholie, die gut zu Fabians pessimistischer Grundhaltung passt: Er betrachtet sich als Schriftsteller, arbeitet aber für die Werbeabteilung einer Zigarettenfabrik; später ist er arbeitslos und pleite. Die ironische Distanz, mit der er auf die Welt blickt, ist bloß eine Tarnung für seinen Fatalismus. Saskia Rosendahl hat mit Schilling schon in "Werk ohne Autor" (2018) perfekt harmoniert; Lentz sorgt dafür, dass sich zumindest der männliche Teil des Publikums gemeinsam mit Fabian in Cornelia verliebt.