Ein prägender Begriff des Berichts ist "Fresh X". Das hört sich wie ein Kaugummi an, steht aber für "Fresh Expression of Church", eine Erneuerungsbewegung aus England. evangelisch.de-Reporter Thomas Klatt hat einen Fresh-X-Gottesdienst in Berlin besucht.
Statt Glockengeläut zählt ein Countdown an der Leinwand die Zeit herunter. Die meist jungen Besucher sitzen nicht auf harten Bankreihen, sondern sinken tief in Sessel hinein. Punkt 11 Uhr geht es dann los.
"Dass wir Gottesdienst im Kino feiern, ist Mittel zum Zweck, weil das hier im Stadtteil der größte Raum ist, der öffentlich zugänglich ist", sagt Dirk Farr, Pastor der Jungen Kirche Berlin Treptow. "Kirche gehört in den öffentlichen Raum. Da, wo das Leben stattfindet. Das Kino ist ein vertrauter Raum. Man fühlt sich im dunklen Saal nicht auf dem Präsentierteller. Die Hemmschwelle für Nichtkirchengänger ist geringer."
Dirk Farr ist mit seiner Jungen Kirche Berlin Treptow Teil des bundesweiten Fresh-X-Netzwerkes. Die Gemeinde hat sich vor gut 15 Jahren gegründet und lebt allein von Spenden. Es gibt keine feste Mitgliedschaft, die Kirchensteuer zahlen würde. Nur Pastor Dirk Farr ist über die Berliner Stadtmission und Liebenzeller Mission festangestellt. Was er hier umsetzt, ist eine Idee, die seit den 1990er Jahren aus England stammt.
Anglikanische Kirche macht Umbruch vor
"Die anglikanische Kirche hatte eine große Finanzkrise und musste umstellen. Und eine der Dinge, die daraus entstanden sind, ist eben dieses Fresh X, Fresh Expression of Church. Es geht darum, neue Ausdrucksformen von Gemeinde ergänzend zur Parochie zu entwickeln", erklärt der Pastor.
So setzen Fresh X nicht wie die Parochien auf den klassischen Gemeindebrief, sondern auf Newsletter und social Media, Facebook, Instagram, Twitter. Auf YouTube wird mit gestreamten Inhalten zusätzlich Werbung gemacht. Statt in alte Kirchengebäude einzuladen, eröffnen Fresh-X-Kirchencafés mitten in der Stadt. Oder es werden eben Lichtspielhäuser genutzt.
Im Johannisthaler Kino-Gottesdienst spielt jetzt eine dreiköpfige Band Lobpreislieder. Die deutschen und englischen Liedtexte werden zum Mitsingen an die Leinwand projiziert. Manche der gut 70 Zuhörer stehen aus ihren Kinosesseln auf und singen die Hände erhoben mit. Andere beten kniend. Pastor Farr predigt über das weniger Online in der Fastenzeit: Mal 24 Stunden das Handy ausmachen, Gespräche mit Freunden suchen, Ruhe beim Sport finden, oder eben im Gottesdienst.
Evangelisch mit pietistischer Prägung
Zum Schluss wird das Vaterunser gebetet. Ganz klassisch geht der Klingelbeutel herum und Pastor Farr schließt mit dem Aaronitischen Segen aus der Hebräischen Bibel, dem Alten Testament.
"Wir sind landeskirchlich evangelisch mit einer pietistischen Prägung, mit einer Liebe zum Katholischen und einer Offenheit dem Pentekostalen gegenüber", erklärt der evangelische Theologe die Fresh-X-Ausrichtung seiner Gemeinde. Irgendwie also von allem etwas. Das kommt bei den Besuchern offenbar gut an.
Fresh X ist mittlerweile zu einer so ernstzunehmenden Größe geworden, dass die EKD ihr nun eine ganze Studie gewidmet hat. Ann-Christin Renneberg vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland ist Mitautorin des neuen 2. Gemeindebarometers. Darin wird das Verhältnis der Fresh-X-Gemeinden zu den klassischen örtlichen Parochialgemeinden untersucht.
Fresh X habe "Geh"- statt "Komm-Struktur"
"Die Fresh X haben eine 'Geh-Struktur', sie gehen raus und versuchen die Leute direkt anzusprechen. Die Parochie hat eher eine 'Komm-Struktur', wo erwartet wird, dass jemand etwa zum Posaunenchor kommt oder jemand seine Kinder zum Kinderchor schickt", erklärt Renneberg. Und weiter: "Es soll keine Konkurrenz zu den bestehenden Gemeinden sein, sondern eher eine Ergänzung für die, die ihren Glauben noch suchen und dafür in den traditionellen Gemeinden keinen Platz für sich gefunden haben. In unserer Studie hat sich gezeigt, dass es vor allem Single-Paare und Alleinerziehende sind, die versuchen, Anschluss zu finden. Diese mittlere Altersstufe ist in den Parochien nicht breit vertreten. Da besteht eine Kluft."
Seitens der EKD besteht sogar die Hoffnung, dass durch Fresh X die klassischen Ortsgemeinden eine Neubelebung erfahren könnten.
Pastor Dirk Farr schmunzelt dazu jedoch auf Nachfrage. Er sieht sich nicht unbedingt in der Rolle, neue Menschen für die alten Ortsgemeinden zu gewinnen. Fresh X stehe für sich. Der christliche Glaube hänge nicht mehr an der klassischen Mitgliedschaft: "Wir sind Mitglied im Fitness-Studio oder bei Spotify, solange es uns was bringt. Und wenn es uns nichts mehr bringt, dann kündigen wir und gehen raus. Deswegen ist Mitgliedschaft nicht mehr der einzige Indikator für Zugehörigkeit. Wir messen Verbundenheit an drei Faktoren: Bring ich Zeit rein, engagier ich mich? Bete ich mit, trage ich das geistig mit? Und finanzier ich das mit?"
Fresh X will also für den christlichen Glaube Raum ohne feste Mitgliedschaft und jenseits der klassischen Ortsgemeinde bieten. Man darf gespannt sein, ob sich diese neue Gemeindebewegung auch in Deutschland dauerhaft wird durchsetzen können.