TV-Tipp: "Nichts, was uns passiert"

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1. März, ARD, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Nichts, was uns passiert"
Es gab die Zeit davor, und es gibt die Zeit danach. Davor war das Dasein unbeschwert; danach ist alles anders. Das klug konzipierte und herausragend gespielte Drama "Nichts, was uns passiert" besteht aus exakt diesen beiden Hälften.

Der Film beginnt wie eine Romanze: Im Uni-Umfeld lernen sich Anna (Emma Drogunova) und Jonas (Gustav Schmidt) kennen. Die beiden geraten immer wieder aneinander, mal aufgrund von Missverständnissen, mal aufgrund unterschiedlicher Ansichten; aber stets auf eine sympathische, zugewandte Art.

Es ist Sommer, das Leben liegt vor ihnen. Anna hat ihr Studium beendet, Jonas schreibt seine Dissertation, beide blicken selbstbewusst in die Zukunft, alles ist möglich, auch eine große Liebe; theoretisch. Praktisch hat er gerade erst eine aus seiner Sicht wenig glücklich geendete Beziehung hinter sich; sie macht ohnehin den Eindruck, als wolle sie sich noch nicht festlegen. Sie haben Sex, aber mehr wird nicht draus; und dann kommt es eines Nachts unter dem Einfluss von sehr viel Alkohol zu einem verhängnisvollen Ereignis, das beider Dasein verändern wird.

Es dauert sehr lange, bis "Nichts, was uns passiert" – das Drehbuch von Regisseurin Julia C. Kaiser basiert auf dem gleichnamigen Roman von Bettina Wilpert – zum eigentlichen Thema der Geschichte vorstößt, aber das ist völlig in Ordnung: weil es ein außerordentliches Vergnügen bereitet, dem Ensemble zuzuschauen. Der Film ist im Wesentlichen ein Vier-Personen-Stück, das fast ausschließlich aus Gesprächen besteht, doch sämtliche Mitwirkenden haben sich ihre Rollen derart gut angeeignet, dass nie der Eindruck von Schauspiel entsteht. Die Dialoge mitsamt ihrem authentischen Sprachgebrauch sind dem Leben abgeschaut; hier agieren keine Filmfiguren, sondern richtige Menschen.

Sehr überzeugend ist auch die vom Roman übernommene dramaturgische Konstruktion, die dem Drama mit seiner Mischung aus Befragungen und Rückblenden den Anschein eines Krimis gibt: Rahmenhandlung ist die Recherche einer jungen Podcasterin (Shari Asha Crosson), die mit allen Beteiligten spricht, um sich ein Bild zu machen, darunter auch Hannes (Lamin Leroy Gibba), Annas bestem Freund. Sie hat Jonas durch ihn kennengelernt und bringt ihn mit ihrem Vorwurf in eine Zwickmühle, denn er kann und will nicht glauben, dass ausgerechnet der freundliche und sich stets "woke" gebende Jonas ein Vergewaltiger sein soll. 

Tatsächlich dauert es eine ganze Weile, bis Anna dem Verbrechen einen Namen gibt. Bis dahin, sagt sie, habe ein weißes Loch in ihrem Bewusstsein alle Wörter, die die Sache benennen wollten, aufgesaugt habe. So richtig klar wird ihr das erst, als sie Jonas zufällig im Supermarkt begegnet und plötzlich von Panik befallen wird. Ihre Schwester (Katja Hutko) empfiehlt ihr dringend, Anzeige zu erstatten, und jetzt endlich geht sie zur Polizei. Wegen des übermäßigen Alkoholkonsums hat sie einen Filmriss, aber sie weiß noch, dass sie keinen Sex wollte und "Nein" gesagt hat. Irgendwann habe sie ihre Gegenwehr eingestellt, damit es möglichst schnell vorbei ist. "Das wird Probleme mit der Beweislage geben", stellt die Polizistin fest. Das Gespräch gipfelt in einem mutmaßlich gutgemeinten, aber wenig hilfreichen Ratschlag: "Nicht so viel trinken, man sieht ja, wohin das führt."

Eine weitere besondere Qualität neben den preiswürdigen Leistungen gerade von Drogunova und Schmidt, der kürzlich schon in dem SWR-Krimidrama "Die Verteidigerin" ausgezeichnet war, liegt im Verzicht auf Klischees. Anna will kein "MeToo"-Opfer sein, Jonas ist kein typischer Täter, allerdings, wie der Film andeutet, das Produkt einer Selbstinszenierung, weil seine zur Schau gestellte hochsensible Aura womöglich gar nicht seine tatsächliche Haltung widerspiegelt. Er ist sich zudem keiner Schuld bewusst, weil er keine ablehnenden Signale von Anna wahrgenommen hat.

Das ist für Kaiser die Botschaft des Films: Wir leben in einer Gesellschaft, in der ein Körper von einer anderen Person so lange ungestraft sexuell berührt werden darf, bis sie nein sagt, dabei sollte es genau andersrum sein: Der Körper darf erst berührt werden, "wenn ich ausdrücklich und lustvoll und freudig ‚Ja!‘ gesagt habe."

Die Regisseurin hat unter anderem mit ihrem fürs Kino entstandenen tragikomischen Beziehungsdrama "Die Hannas" (2017) auf sich aufmerksam gemacht. Zuletzt hat sie das Drehbuch zu dem Fernsehfilm "Die Luft, die wir atmen" (2022) geschrieben, ein mit viel Empathie erzähltes Ensemble-Drama über Menschen, die unfreiwillig eine Nacht in einem Pflegeheim verbringen.