Wann sollte Triage im Krankenhaus erlaubt sein?

Auf der Intensivstation blickt ein Mitarbeiter auf einen Überwachungsmonitor
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Im Notfall soll eine Triage nur dann möglich sein, wenn die Behandlung noch nicht begonnen hat. Das hat der Bundestag Mitte November beschlossen.
Kolumne: Evangelisch kontrovers
Wann sollte Triage im Krankenhaus erlaubt sein?
Vor zwei Wochen hat der Bundestag ein neues "Triage-Gesetz" für den Fall eines medizinischen Notstands beschlossen. Es ist Ärztinnen und Ärzten nun verboten, eine begonnene Behandlung abzubrechen zugunsten anderer Patient:innen mit besserer Prognose. Zahlreiche Ärzte kritisieren diese Entscheidung klar. Dennoch hat der Bundestag richtig entschieden, findet Alexander Maßmann.

In den ersten beiden Corona-Wellen standen deutsche Krankenhäuser kurz davor, Patienten aus Mangel an Kapazitäten abweisen zu müssen. Deshalb hat der Bundestag vor zwei Wochen ein neues, umstrittenes Gesetz zur sogenannten Triage  beschlossen.

Das französische Wort "triage" bedeutet "Auswahl". Eine Auswahl ist nötig, wenn die Patientinnen und Patienten zu zahlreich sind für die begrenzten medizinischen Ressourcen – also für Intensivbetten, Beatmungsgeräte, Arzneimittel und Arbeitskräfte.

Wenn nun zwei Patient:innen ins Krankenhaus kommen und man nur eine Person versorgen kann, wen nimmt man auf und wen lässt man warten? Klar ist: Patient:innen dürfen nicht abgewiesen werden, weil sie zur Gruppe der Menschen mit Behinderung gehören. Außerdem zählt bei einer Triage nur die aktuelle, kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit. Darauf hat das Bundesverfassungsgericht  letztes Jahr insistiert.

Die eigentlich brennende Frage lautet nun: Geht man so weit, die Geräte bei einem Patienten auszuschalten, um damit einen Neuankömmling zu versorgen, der im direkten Vergleich bessere Überlebenschancen hat?

Der Bundestag hat entschieden, dass im Notfall eine Triage nur dann stattfindet, wenn die Behandlung noch nicht begonnen hat. Man möchte sinnvollerweise vermeiden, dass jemand mit schlechterer Überlebens-Chance jemandem den Platz wegnimmt, der deutlich bessere Aussichten hat, und schließlich beide sterben. Andererseits aber hat der Bundestag verboten, dass die Geräte eines Patienten abgestellt werden mit dem Ziel, einen Neuankömmling mit besserer Prognose zu versorgen.

Kritik aus der Ärzteschaft

Doch das Verbot, Behandlungen aus Gründen der Knappheit abzubrechen, kritisieren viele Mediziner:innen. Die Bundesärztekammer und der Marburger Bund lehnen das Verbot etwa ab. Denn aus ärztlicher Sicht liegt es auch nach Beginn der Behandlung nahe, die Patientin zu bevorzugen, deren medizinische Lage weniger schlecht ist. Insgesamt würden durch den Behandlungsabbruch mehr Leben gerettet, wenn die freiwerdenden Kapazitäten anderen Menschen einen größeren Nutzen bringen. Wird dagegen eine Patientin mit schlechterer Prognose behandelt, weil sie zuerst im Krankenhaus war, bleibt die Therapie einer später ankommenden Patientin vorenthalten, auch wenn die eine bessere Prognose hat. So verlieren möglicherweise beide das Leben, obwohl diejenige mit besserer Prognose hätte gerettet werden können.

Ein einzelner Patient würde im Extremfall enttäuscht, doch indem man vom Einzelfall absieht, werden insgesamt mehr Leben gerettet. Ist also die Entscheidung des Bundestags gegen die Triage nach Behandlungsbeginn zu kritisieren?

Gegen den Behandlungsabbruch

Gegen die Triage nach Behandlungsbeginn spricht, dass Patient:innen und Angehörige ab einem gewissen Punkt Gewissheit haben sollen. Hat sich das medizinische Team mit Behandlungsbeginn dem Patienten verpflichtet, dann ist er in guten Händen und kann sich auf das Team verlassen. Patient:innen müssen dann nicht mehr fürchten, dass Neuankömmlinge ihnen den Platz streitig machen. Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient steht nicht unter Vorbehalt.

Mögliche Konsequenzen wie die Rettung vieler Leben sind nicht gering zu schätzen. Zugleich ist aber auch das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt, Patient und Angehörigen ein hohes Gut. Aus evangelischer Sicht muss sich ein Individuum zumindest ab einem bestimmten Punkt auf wesentliche Dinge verlassen können und nicht die Missachtung der eigenen Würde fürchten müssen.

In der evangelischen Ethik ist ja die Rechtfertigung des Sünders ein leitender theologischer Gesichtspunkt. Er besagt, dass die Würde des Menschen vor Gott auch angesichts der eigenen Mängel und Defizite bestehen bleibt. Die Verpflichtung Gottes gilt immer je einer bestimmten Person. Dem gilt es auch praktisch auf der Intensivstation zu entsprechen: Das Krankenhausteam geht mit Behandlungsbeginn eine Verpflichtung gegenüber einem Individuum ein, und diese Verbindlichkeit kann es nicht lösen aufgrund der abstrakten, statistischen Betrachtung einer Vielzahl von Patienten.

Fachkräfte nicht zusätzlich binden

Hier ließe sich entgegnen, dass es auch der Würde von Individuen widerspricht, Patienten abzuweisen – sogar dann, wenn ihre medizinischen Aussichten besser sind. Dieser Einwand wird aber durch ein praktisches Argument entkräftet. Denn mit einer Triage nach Behandlungsbeginn würde die Verantwortung der Ärztinnen und Ärzte ins Unermessliche wachsen. Das Team der Intensivstation müsste jeden Neuankömmling sorgfältig untersuchen und die Behandlung von jedem bestehenden Patienten erneut kritisch prüfen – und das, obwohl die zu versorgenden Patienten bereits alle Kapazitäten voll in Anspruch nehmen. Der Direktor einer Notaufnahme erinnert sich, dass in Corona-Stoßzeiten stündlich 10 bis 20 neue Patienten  eingeliefert wurden. Wäre die Triage gängige Praxis, wäre er vor lauter Triagieren gar nicht mehr zum Behandeln gekommen.

Gerade solchen Extremsituationen widmet sich das Triage-Gesetz, und insbesondere die personellen Ressourcen sind im Krankenhaus knapp. Medizinische Fachkräfte arbeiten in einer Pandemie unter Stress, und die Regelung der Triage darf die Ressourcen nicht noch zusätzlich beanspruchen. Darauf hat auch das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich hingewiesen.

Schlussfolgerung

Eine vollständige Diskussion des Triage-Gesetzes Frage müsste nicht nur die Triage nach Behandlungsbeginn erörtern, sondern auch fragen, ob die Triage vor Behandlungsbeginn gerechtfertigt ist. Ich selbst halte das Gesetz für einen sinnvollen Kompromiss, der die Triage vor Behandlungsbeginn erlaubt, danach aber verbietet.

Zumindest in der Frage der Triage nach Behandlungsbeginn hat der Bundestag aus Sicht der evangelischen Ethik gut entschieden, als er die Triage nach Behandlungsbeginn abgelehnt hat. Eine Triage, die eine begonnene Behandlung abbricht, weil ein neu ankommender Patient bessere Aussichten hat, untergräbt das Vertrauensverhältnis und bürdet dem Krankenhausteam eine zu große Verantwortung auf. Die Würde des Individuums ist unhintergehbar, und schmerzliche Grenzen in der Leistungsfähigkeit der Ärzt:innen muss man ehrlich anerkennen.