Soll das Abtreibungsrecht geändert werden?

Frau beim Beratungsgespräch beim Arzt
© Getty Images/iStockphoto/KatarzynaBialasiewicz / evangelisch.de (M)
Der Vorschlag zur Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen beinhaltet, die Selbstbestimmung der Schwangeren klarer zu stärken. Alexander Maßmann diskutiert das Thema in seiner Kolumne "evangelisch kontrovers".
Kolumne: evangelisch kontrovers
Soll das Abtreibungsrecht geändert werden?
Im deutschen Abtreibungsrecht ist es in diesem Jahr zu Neuerungen gekommen. Darüber hinaus wird die Forderung, den § 218 abzuschaffen, schon länger in der Gesellschaft laut. Möglicherweise wird das das Thema einer neuen politischen Kommission, die sich der Selbstbestimmung in der Familienplanung widmen soll. Anlass genug, sich aus evangelischer Sicht mit dem Thema Schwangerschaftsabbruch zu beschäftigen, meint Alexander Maßmann.

Im den medizinischen und rechtlichen Regelungen von Schwangerschaftskonflikten hat es zuletzt Änderungen gegeben. Im Sommer hat die Regierung das sogenannte Werbungsverbot für Abtreibungen (§ 219a) abgeschafft, und ein neuer nicht-invasiver Frühtest zur Erkennung des Down-Syndroms wird unter bestimmten Umständen von den Krankenkassen bezahlt. Außerdem sieht der Koalitionsvertrag vor, dass eine "Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin" eingerichtet wird. Hier soll diskutiert werden, ob Abtreibungen zu einem regulären Teil der Gesundheitsvorsorge werden sollen, der generell nicht mehr rechtswidrig wäre (§ 218). Die EKD hat bereits signalisiert, dass sie an dieser Kommission beteiligt werden möchte. Diese Entwicklungen werfen die Frage auf, wie Abtreibungen allgemein aus Sicht der evangelischen Ethik zu bewerten sind.

Die rechtliche Lage

Bislang ist eine Abtreibung in Deutschland legal, wenn die Schwangerschaft auf einer Gewalttat beruht oder eine Austragung des Embryos klar die Gesundheit der Schwangeren beeinträchtigen würde. Dabei sind auch seelische Konflikte relevant. Hier kann eine Abtreibung z.B. legal sein, wenn beim Embryo eine schwere Behinderung festgestellt wird, die die Schwangere als eine zu große Belastung für sich einschätzt. Außerdem liegt eine Abtreibung, abgesehen von medizinischen und kriminologischen Umständen, im Ermessen der Schwangeren, wenn sie vor der 12. Schwangerschaftswoche geschieht. Dann ist sie zwar rechtswidrig, bleibt aber straffrei. In jedem dieser Fälle muss sich die Schwangere von einer anerkannten Stelle beraten lassen. Diese Beratung soll sie zur Austragung der Schwangerschaft ermutigen (§ 219).

Diese Regelung soll zwei Ziele miteinander vereinbaren: Sie soll sowohl das heranwachsende Leben schützen als auch der Schwangeren ein bedeutendes Maß an Selbstbestimmung ermöglichen. Aus ethischer Sicht sind beides wesentliche Ziele, die nicht leichtfertig aufgegeben werden dürfen.

Ist volle Selbstbestimmung besser?

Der neue Vorschlag lautet nun, die Selbstbestimmung der Schwangeren klarer zu stärken. Damit würde aber nicht, so argumentieren manche, das Leben der Embryos geopfert: In Ländern mit liberaleren Regeln komme es nicht zu mehr Abtreibungen, vielleicht sogar zu weniger. Der Gedanke ist, dass Frauen ihrer moralischen Verantwortung durchaus nachkommen und sich keineswegs leichtfertig für Abtreibungen entscheiden werden – so man sie denn als mündig behandelt und nicht strafrechtlich gängelt.

Doch dass eine Liberalisierung nicht zu einer Zunahme an Schwangerschaftsabbrüchen führen werde, geben die Statistiken nicht her. Manche liberalere Länder (z. B. in Skandinavien) haben höhere Abbruchraten. Verschiedene Regelungen sind international nicht immer klar vergleichbar in der Frage, ob sie mehr oder weniger liberal sind. Und neben dem Strafrecht beeinflussen sehr verschiedene Faktoren die Abtreibungsraten – etwa Sozialpolitik, Kultur und Religion.

Gegen den Wunsch, den Schwangerschaftsabbruch vollends aus dem Strafrecht herauszunehmen, spricht außerdem, dass die Selbstbestimmung der Schwangeren kürzlich bereits gestärkt wurde. Mit Wegfall des sogenannten Werbeverbots haben sie es leichter, eine Frauenärztin des Vertrauens zu finden. Durch die Finanzierung der nicht-invasiven Frühtests können Schwangere sich außerdem besonders früh, einfach und risikolos Klarheit darüber verschaffen, ob das Kind voraussichtlich Down-Syndrom hat.

Damit fragt sich aber, ob nicht andererseits der Embryo stärker geschützt werden soll. Abtreibungsgegner treten auch in Deutschland zunehmend lautstark oder gar aggressiv auf. Hier lauten die beiden klassischen Streitpunkte: Ab wann ist der Embryo im vollen Sinn als Person zu schützen? Und kann eine Abtreibung gerechtfertigt sein, auch dann, wenn keine Sexualstraftat vorliegt wenn nicht zu befürchten ist, dass eine gravierende Behinderung des Kindes das Leben der Mutter stark erschweren würde?

Ab wann ist der Embryo voll zu schützen?

Die Ansicht, dass der Embryo von Beginn an, seit der Befruchtung, im vollen Sinne als Person zu schützen sei, wird besonders von römisch-katholischen Theologen vertreten. Dagegen spricht aber, dass auch ein befruchteter Embryo sich oft nicht in der Gebärmutter niederlässt, sondern vom Körper der Frau ausgestoßen wird. Das ist etwa bei der Hälfte der Embryonen der Fall. Wenn man nun den Embryo vom ersten Augenblick an im vollen Sinne für eine Person hält, dann muss man, ganz ohne Abtreibung, eine humanitäre Katastrophe drastischen Ausmaßes beklagen, die nicht bloß hin und wieder stattfindet, sondern die Menschheitsgeschichte seit je her ohne Unterlass begleitet. So denken wir aber nicht über das Leben. In letzter Konsequenz ist diese Maximalposition einfach nicht plausibel.

Welchen Sinn hat die Norm des Lebensschutzes?

Das bedeutet aber nicht, dass Abtreibungen zu Beginn der Schwangerschaft einfach unproblematisch wären. Embryonen entwickeln sich zu Personen im vollen Sinn, und so muss das Strafrecht sie schützen. Es ist aber zu fragen, wie der Sinn einer solchen Norm zu verstehen ist, die das werdende Leben schützt. Aus evangelischer Sicht kann es nicht darum gehen, dass sich eine schwangere Frau widerwillig einer Regel beugt, deren Legitimität sie nicht einsehen kann. In diesem Sinn hatte das "Werbeverbot" hier vor allem den Effekt, ihr durch das Vorenthalten von Informationen Steine in den Weg zu legen.

Dagegen haben moralische Regeln aus evangelischer Sicht den Sinn, dass sie dem Leben dienen, auch dem Leben derer, die sie befolgen sollen. Ein himmelweiter Unterschied besteht zwischen einer Regel, die ich zähneknirschend befolgen muss, und einer Regel, die einen guten Sinn hat, weil sie für uns Menschen dienlich ist. Das Strafrecht ist aus evangelischer Sicht sinnvoll, weil es die Geschöpfe schützt, die Gott der Schöpfer bejaht und für die Jesus Christus selbst einsteht. Ich kann diese Regeln mit Überzeugung anerkennen – nicht weil ich durch eine fremde Macht dazu genötigt werde, sondern weil dieses "Ja" Gottes auch mir zugute kommt. Es ist also zu hoffen, dass die Schwangere den Embryo anerkennt als ein Lebewesen, das genau wie sie von Gottes großer Liebe getragen ist. 

Lebensschutz für Kinder mit Behinderung

Dabei zeigt die Erfahrung auch: Die Furcht, dass ein Kind mit Behinderung seine Lebensfreude als sehr getrübt erfahren wird oder dass das Leben der Eltern dadurch an Sinn einbüßt, ist in der Regel unbegründet. Befragungen von Kindern mit Down-Syndrom, von ihren Eltern und ihren Geschwistern zeigen, dass sie zufrieden oder sehr zufrieden mit ihrem Leben sind – mit der Behinderung und auch trotz der Behinderung. Oft begegnen Menschen dem Szenario "Behinderung" mit Vorbehalten und Furcht, doch Familien, in denen tatsächlich jemand eine Behinderung hat, geben meist an, dass sie trotz Schwierigkeiten dankbar sind für das Leben. Rechtlich ist es deswegen nicht plausibel, eine Behinderung allgemein als Rechtfertigung für eine Abtreibung anzuerkennen.

Dennoch kann sich eine Schwangere der Aufgabe der Elternschaft nicht gewachsen sehen. Das kann unter Umständen dann der Fall sein, wenn das Kind eine starke Behinderung hat und die Mutter zu wenig Unterstützung erfährt, sei es durch den Partner, Verwandte oder die Gesellschaft. Es ist zu hoffen, dass sich solche Befürchtungen in Gesprächen und in der Aussicht auf Unterstützung zerstreuen. Deshalb ist die Gesellschaft gefordert, Menschen mit Behinderung stärker zu unterstützen, als das bisher geschieht.

Zerstreuen sich berechtigte Befürchtungen der Schwangeren aber nicht, sind sie ernst zu nehmen und zu respektieren. Dass eine Schwangere das Mutter-Sein nicht als ein Dürfen erlebt, sondern als ein Müssen, zu dem sie verurteilt ist, ist aus evangelischer Sicht nicht tragbar. Denn das Evangelium, die gute Nachricht, soll ja ihr, der Schwangeren gelten. Um in diesem Fall eine Abtreibung zu rechtfertigen, muss aber eine Ausnahmesituation vorliegen, die – wie es im Gesetz heißt – "die zumutbare Opfergrenze übersteigt". Je später der Abbruch erfolgen würde, desto drastischere Formen müsste eine solche Ausnahmesituation annehmen. 

Schlussfolgerung

Grundlegende Änderungen an der rechtlichen Beurteilung des Schwangerschaftsabbruches halte ich nicht für angebracht. Wer sich für größere Selbstbestimmung der Schwangeren ausspricht, sollte bedenken: Eine Schwangere, die über eine Abtreibung nachdenkt, ergreift nicht nur Verantwortung für sich selbst und "ihren Bauch", sondern auch für das werdende Kind in ihr. Diejenigen, die einen größeren Schutz dieses Embryos einklagen, sollten bedenken: Die Norm des Lebensschutzes kann nicht den Sinn haben, jeder Schwangeren mit der Gewalt des Gesetzes ein Austragen des Kindes abzuringen, nach dem Motto, "friss, Vogel, oder stirb". 

Wenn denn Änderungen am Abtreibungsrecht angebracht sind, wäre zuerst abzuwarten, wie sich die jüngsten Neuerungen – das Fallen des sogenannten Werbeverbotes und die Finanzierung der nicht-invasiven Frühtests – auswirken. Da in diesem Zusammenhang die Diagnose einer Trisomie 21 immer wieder diskutiert wird, wäre es vermutlich sinnvoll, dass eine Statistik geführt darüber wird, wie oft es vor der Geburt zu einer solchen Diagnose kommt und in wie vielen Fällen es dabei zu einem Schwangerschaftsabbruch kommt.