Nach dem fünften Film ("Freier Fall") ist Hauptdarsteller Wotan Wilke Möhring damals mehr oder weniger freiwillig ausgestiegen, weil er im gleichen Jahr (2013) seinen Job als Bundespolizist im "Tatort" des NDR angetreten hatte. Martin Eigler, der die ersten acht Drehbücher der Reihe gemeinsam mit Sven S. Poser geschrieben und die ersten fünf Filme auch inszeniert hat, ermöglichte Möhring jedoch einen Abgang, der zumindest nicht endgültig war: Hauptkommissar Benjamin Lietz, ohnehin eine schillernde Figur, die das Gesetz stets als eine Art Grauzone betrachtete, erschoss den Mörder seines Bruders und kam ins Gefängnis. Ungleich erschütternder war jedoch die lebensgefährliche Verletzung seiner Freundin und Kollegin Nina Petersen (Katharina Wackernagel), die bei einem Schusswechsel das gemeinsame Baby verlor.
Sieben Handlungsjahre später beschert Eigler (Buch und Regie) dem Ex-Partner ein Comeback, das es in sich hat. Schon allein diese Idee ist prima, zumal sie den ohnehin fesselnden Krimi um ein wesentliches Element bereichert, denn natürlich schwingt die ganze Zeit die irrige Hoffnung mit, dass sich Lietz, der sich offenbar auf äußerst finstere Zeitgenossen eingelassen hat, als verdeckter Ermittler entpuppt. Ein frommer Wunsch, wie Karl Hidde (Alexander Held) klarmacht: weil der ehemalige Kollege, dem er ohnehin nie getraut hat, damals die titelgebende "Rote Linie" überschritten hat.
Deshalb gerät Lietz auch prompt unter Mordverdacht, nachdem Petersen ihn einer regnerischen Nacht verletzt vor ihrer Haustüre entdeckt: Im Jachthafen ist ein Mann ermordet worden; die Täter haben ihm einen Finger abgeschnitten, womöglich ein Signal an etwaige Rivalen. Die Bilder einer Überwachungskamera lassen keinen Zweifel daran, dass der zwischenzeitlich aus der Haft entlassene Ex-Polizist zur Tatzeit in der Nähe war.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das leugnet Lietz auch gar nicht; er hat sich mit dem Opfer, einem Gangster aus dem Bereich Bandenkriminalität, im Gefängnis angefreundet. Der Mann hat ihn um ein Treffen im Hafen gebeten, auf dem Weg dorthin ist Lietz überfallen worden. Petersen glaubt ihm, Hidde will ihn verhaften, aber dazu kommt es nicht, weil plötzlich zwei Vermummte auftauchen. Als die Kommissarin aus ihrer Ohnmacht erwacht, sind die Männer verschwunden. Fortan lebt der von Eigler schnörkellos inszenierte Krimi vor allem von den offenen Fragen: Was geht hier überhaupt vor? Falls es sich tatsächlich um einen Bandenkrieg handelt, wie der fehlende Finger andeutet: Was ist der Anlass? Und was hat Lietz damit zu schaffen?
Es folgt eine kurze Phase der üblichen TV-Krimi-Routine, die Eigler durch eine Renovierung des Reviers auflockert. Das beliebte Mittel, um gewohnte Abläufe zu durchbrechen, ist hier allerdings wirkungsvoll eingesetzt: Hidde ist offenkundig entführt worden, die Stimmung ist entsprechend gereizt, und der Baulärm trägt nicht gerade zur Entspannung bei. Als sich rausstellt, dass sich der Kollege auf der Autofähre nach Litauen befindet, stimmt Petersens Vorgesetzter (Johannes Zirner), ein weiterer Ex-Geliebter Petersens, einem riskanten Plan zu, der ihn den Job kosten kann: Die Kollegen Uthman und Stein (Karim Günes, Andreas Schröders) tarnen sich als Exporteure von Küchengeräten, die Kommissarin versteckt sich im Laderaum des Transporters.
Schon die entsprechenden Schauplätze sind faszinierend, zumal sowohl im Fährehafen wie auch auf der Fähre selbst anscheinend bei laufendem Betrieb gedreht worden ist. Die Spannung spitzt sich zu, als die Gangster auch noch Uthman schnappen. Eine zweite Geisel brauchen sie aber nicht, zumal ohnehin fraglich ist, ob sie Hidde, wie von Lietz versprochen, am Leben lassen werden. Die Handlung mündet in eine veritable Schießerei auf einem litauischen Schrottplatz und endet ähnlich erschütternd wie einst "Freier Fall".
Die persönliche Betroffenheit der Hauptfigur macht einen Reihenkrimi automatisch zu einem ungleich intensiveren Seh-Erlebnis als eine gewöhnliche Episode, in der Kommissare einen Mörder suchen. Die Empathie gilt allerdings auch dem physisch wie psychisch angeschlagenen Lietz, der sich mit dunklen Mächten eingelassen hat und nun buchstäblich zwischen die Fronten geraten ist. Nach "Freier Fall" haben die Verantwortlichen eine zweijährige Kreativpause eingelegt, aus der die Reihe gestärkt und sogar noch besser zurückgekehrt ist. Es wird sich zeigen, ob das auch diesmal klappt.