Weil sich auch ARD und ZDF bei ihren Programmentscheidungen an den Vorlieben des Publikums orientieren, sind in den letzten Jahren einige Filmreihen mit großem Potenzial nicht über zwei Teile hinausgekommen. Auf der Strecke geblieben sind unter anderem "Kommissar Pascha" (ARD, nach den Romanen von Su Turhan) oder "Kommissar Süden" (ZDF, nach den Romanen von Friedrich Ani). Beide zeichneten sich durch Hauptfiguren aus, die nicht dem üblichen Muster entsprechen. Für Leander Lost gilt das nicht minder.
Der Kommissar ist das Krimipendant zu Ella Schön, der Juristin mit Asperger-Syndrom aus der gleichnamigen ZDF-Reihe: Lost hat ein fotografisches Gedächtnis und verfügt über eine brillante Kombinationsgabe, tut sich aber schwer damit, die Mimik seiner Mitmenschen zu deuten. Für Ironie hat er überhaupt kein Gespür, Humor ist ihm ohnehin fremd, Metaphern versteht er wortwörtlich und Smalltalk kann er auch nicht; kein Wunder, dass er sich unter Menschen oft "lost" (verloren) fühlt. Ähnlich wie "Ella Schön" enthält "Lost in Fuseta" zwar einige heitere Momente, ist jedoch keine Komödie, sondern in erster Linie ein Krimi, der schließlich in ein ebenso fesselndes wie dramatisches Finale mündet.
Die ARD hat Holger Karsten Schmidt unter anderem die herausragenden Krimireihen "Nord bei Nordwest" und "Harter Brocken" zu verdanken. Der mehrfache Grimme-Preisträger ( "Mörder auf Amrum", "Mord in Eberswalde") ist nicht immer glücklich über die Umsetzungen seiner Vorlagen, aber mit der Arbeit von Florian Baxmeyer ist er hochzufrieden. Zu Recht: Der Regisseur hat aus dem Drehbuch einen rundum gelungenen Zweiteiler gemacht, der keine Minute zu lang ist. Das liegt auch an Jan Krauter, der in der ZDF-Krimireihe "Solo für Weiss" an der Seite von Anna Maria Mühe stets nur die zweite Geige spielen darf. Von außen betrachtet mag es für einen Darsteller nicht weiter herausfordernd wirken, in erster Linie keine Miene zu verziehen, aber Krauter hat eine ebenso ausdrucksstarke wie eindrucksvolle Körpersprache für den gelegentlich von Panikattacken heimgesuchten Kommissar gefunden.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Teil eins beginnt mit Losts Ankunft in Portugal: Der Hamburger Polizist kommt im Rahmen eines europäischen Austauschprogramms an die Algarve. Das Duo, dem er zugeteilt wird, tut sich erst mal schwer mit dem Sonderling. Als er Graciana Rosado (Eva Meckbach) und Carlos Esteves (Daniel Christensen) vermeintlich beim Chef verpfeift, weil sie von der Cannabis-Plantage eines kleinkriminellen Informanten wissen, ist der schlechte Start perfekt; die beiden können nicht ahnen, dass Lost nicht lügen kann. Kurz drauf kommt es zum Tiefpunkt der Zusammenarbeit: Ein Gangster hält Carlos ein Messer an die Kehle, Lost schießt dem Kollegen durchs Bein, um so auch den Ganoven zu treffen.
Geschickt bettet Schmidt solche Begebenheiten in eine große Geschichte: Es geht um die unmoralischen Trinkwassermachenschaften eines Schweizer Lebensmittelkonzerns; Ähnlichkeiten mit einem realen Vorbild dürften kein Zufall sein. Die Vertuschung des Skandals hat bereits zu mehreren Todesopfern geführt. Lösen können die drei den Fall jedoch nur zu dritt; "Lost in Fuseta" ist auch ein Inklusionsfilm.
Die Krimi-Ebene ist fesselnd, aber noch besser sind Personal und Ensemble. Eva Meckbach und Daniel Christensen sind weit mehr als bloß eine Ergänzung für Krauter. Auch die markanten portugiesischen Mitwirkenden sind sehr gut ausgewählt, allen voran Adriano Carvalho als Vorgesetzter und José Fidalgo als attraktiver Mann fürs Grobe. Anders als einige Nebenrollen sind sie zudem ausgezeichnet synchronisiert. Das gilt auch für Filipa Areosa: Gracianas jüngere Schwester Soraja fühlt sich stark zu dem "Alemão" hingezogen. Sie verkörpert den "gewissen Zauber", den Lost an dem Land schätzt, und bereichert den Film um eine schmerzlich-schöne Ebene: Ihre Liebe ist nicht zu übersehen, aber Lost nimmt sie nicht wahr.
Bei Baxmeyer ist das Drehbuch in den besten Händen. Es basiert auf dem ersten von mittlerweile fünf "Lost"-Romanen, die Schmidt unter dem offenen Pseudonym Gil Ribeiro geschrieben hat. Das erste Buch ist bereits 2017 erschienen (Kiepenheuer & Witsch), also lange vor dem Start von "Ella Schön". Sehenswert ist nicht nur die Arbeit mit den Mitwirkenden, zu denen im zweiten Teil noch die stets sehenswerte Bianca Neuwirth als Tochter einer ermordeten Umweltaktivistin stößt.
Auch die Bildgestaltung (Michal Grabowski) ist beeindruckend, und das nicht nur wegen des berückenden mediterranen Lichts; zwischendurch erfreut der Film immer wieder durch spektakuläre Kameraflüge. Passend dazu pflegt Graciana einen waghalsigen Fahrstil. Die von melancholischem einheimischem Liedgut durchsetzte Musik (Martina Eisenreich) wiederum ist ausgesprochen lässig; effektvoll inszenierte alptraumhafte Momente sorgen für krasse Kontrapunkte.
Baxmeyer, Regisseur vieler guter Bremer "Tatort"-Beiträge mit dem früheren Duo Postel/Mommsen, hat schon die Schmidt-Drehbücher zu dem Zeugenschutz-Krimi "Der Auftrag" und eine Episode aus "Harter Brocken" inszeniert. Seine letzte Regiearbeit war die ARD-Serie "Schneller als die Angst", eine gleichfalls ausgezeichnet gespielte und preiswürdig fotografierte Miniserie mit Friederike Becht als LKA-Fahnderin, die bei der Jagd auf einen Frauenmörder mit ihren eigenen Dämonen konfrontiert wird. Die ARD zeigt beide Teile am Stück; Schmidts Drehbuch für eine Fortsetzung ist bereits fertig.