Also plaudern in der vierteiligen Dokumentation "Die 70er – Ein Jahrzehnt der Gegensätze" unter anderem Nina Hagens Tochter Cosma Shiva (Jahrgang 1981), die Moderatorin Aminata Belli (1992) oder die Klimaschutzaktivistin Carla Reemtsma (1998) über eine Zeit, die sie, wenn überhaupt, nur aus Erzählungen ihrer Eltern kennen. Zum Glück lässt die Autorin auch andere zu Wort kommen. Das sind jedoch mit Ausnahme von Uschi Glas und Peter Maffay größtenteils nicht jene, die in den zeitgenössischen Ausschnitten zu sehen sind, was ebenfalls bedauerlich ist.
All’ das ist allerdings sekundär, denn das größere Manko ist die Struktur: Schwiering arbeitet sich nicht thematisch, sondern chronologisch durch das Jahrzehnt, weshalb die einzelnen Sendungen vom Hölzchen übers Stöckchen in die Traufe hüpfen; das lässt die Reihe äußerst sprunghaft wirken. Anstatt sich jeweils auf Themen wie Mode, Musik, Politik und Zeitgeschehen zu konzentrieren, reiht die Autorin grundverschiedene Aspekte scheinbar wahllos aneinander.
Für die Verbindungen sorgen Überleitungen, die oft bemüht, mitunter aber auch unfreiwillig komisch wirken: Vom Friedensnobelpreis für Willy Brandt leitet sie mit der Formulierung "Mutig ist auch sie" zu Pippi Langstrumpf über. Ein weiteres Beispiel: Gerade noch ging’s um den außerordentlichen Erfolg der Kinoreihe "Schulmädchen-Report" und Ingrid Steeger, die damals in vielen Sexfilmen mitgewirkt hat. Nächster Punkt ist Juliane Werding, die wie es im Kommentar heißt, ebenfalls noch "ein Schulmädchen" war, als ihr Anti-Drogen-Lied "Am Tag, als Conny Kramer starb" 1972 zum Hit wurde. Die Antwort auf die Frage, wie es mit Steeger ("Klimbim") und Werding (Sängerin, Autorin und Heilpraktikerin) später weitergegangen ist, bleibt der Eigeninitiative des Publikums überlassen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Zum Glück macht "Die 70er" trotzdem Spaß, zumindest all’ jenen, die dabei waren und sich dennoch erinnern können, selbst wenn das erratische Konzept eine Vertiefung der einzelnen Gesichtspunkte kaum zulässt. Daniela Hoffmann und Matti Klemm tragen den Kommentar sehr angenehm vor, die Musik sorgt dafür, dass sich das entsprechende Zeitgefühl umgehend einstellt, und auch die Schilderungen aus erster Hand sind durchaus interessant.
Das gilt aus westlicher Sicht gerade für die ostdeutschen Erzählungen, etwa von "City"-Sänger Toni Krahl (Jahrgang 1949) oder von Sergej Lochthofen (1953), den früheren Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen, der sich noch lebhaft an das Gipfeltreffen von Brandt und Willy Stoph 1970 in Erfurt sowie den begeisterten Empfang des Bundeskanzlers durch die Thüringer erinnern kann. In solchen Augenblicken, wenn sich Rückblick und Erinnerung perfekt ergänzen, hat die Reihe ihre besten Momente.
Ihre größten Schwächen hat sie immer dann, wenn sich die Nachgeborenen vorstellen, wie es wohl gewesen sein muss, wenn man damals homosexuell war; dabei wäre es doch naheliegend, jemanden zu fragen, der die entsprechenden Erfahrungen selbst gemacht hat. Stattdessen erfährt man, dass Hagen bei Männern keine langen Haare mag.
Immerhin hat Schwiering noch weitere interessante Gespräche geführt, etwa mit ZDF-Chefredakteur Peter Frey (1957), mit dem Journalisten Hajo Schumacher (1964) sowie dem "Zeit"-Autor und Musikspezialisten Jens Balzer (1969). Der hat das Jahrzehnt zwar nur als Kind erlebt, aber mit seinem Buch "Das entfesselte Jahrzehnt - Sound und Geist der 70er" gewissermaßen ein Standardwerk verfasst.
Vom früheren ZDF-Kommentator Marcel Reif (1949) ist ohnehin bekannt, dass er nicht nur zu sportlichen Ereignissen klug Stellung nehmen kann. Große Freude macht auch das Wiedersehen mit TV-Klassikern jener Jahre, die anständigerweise nicht nur aus dem Programm des "Zweiten" stammen ("Wünsch Dir was", "Dalli Dalli", "disco", "Hitparade"), sondern auch von der ARD ("Tatort").
Ansonsten wirkt die Reihe jedoch, als habe Schwiering eine Checkliste abgearbeitet: Farbfernsehen, RAF, Kniefall von Warschau, Vietnam-Krieg, Watergate, Christiane F., Reisefieber, "Holocaust" (die Serie) et cetera, dazu Statistiken über die Ausstattung mit Fernsehgeräten und Telefonen in Ost und West.
ZDFinfo zeigt ab 20.15 Uhr alle Folgen am Stück. "Die 70er" ist Teil eines kompakten Zeitreiseschwerpunkts: Im Lauf des Tages wiederholt der Sender weitere Mehrteiler über die Achtziger-, Neunziger- und Zweitausenderjahre.