Raymond Ley ist einer der profiliertesten Regisseure im Genre des Dokudramas. Sein Metier ist die Geschichtsschreibung mit anderen Mitteln, zur Perfektion gebracht in "Eine mörderische Entscheidung" (über den Luftangriff in Kundus, Grimme-Preis 2014); seine Filme "Eichmanns Ende" (2010) oder "Meine Tochter Anne Frank" (2014) wurden ebenfalls mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt hat er sich gemeinsam mit Ehefrau und Koautorin Hannah Ley unter anderem mit dem ungeklärten Tod der jungen Offiziersanwärterin Jenny Böken auf dem Marine-Ausbildungsschiff Gorch Fock ("Tod einer Kadettin", 2017) und den Folgen der Finanzkrise ("Lehman. Gier frisst Herz", 2018) befasst.
Kaum jemand versteht es so vortrefflich wie Ley, dokumentarische Elemente mit Spielszenen zu kombinieren und daraus einen ganz eigenen Reiz entstehen zu lassen. Im Grunde entspricht seine Arbeit der eines klassischen Ermittlers: Er sammelt Puzzleteile. Dabei enthält er sich in der Regel eines eigenen Kommentars; das Gesamtbild entsteht im Kopf des Zuschauers. In diesem Fall ist das anders. Der Film kann nicht verhehlen, dass das Ehepaar Ley, dessen Drehbuch auf einer Vorlage von Dirk Eisfeld basiert, offenkundig die Empörung vieler Menschen teilt: über das Attentat auf Lübcke natürlich, aber auch über die hessischen Staatsorgane. Das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) hat bereits bei der Aufklärung der tödlichen Schüsse auf Halit Yozgat, Betreiber eines Kasseler Internetcafés, eine äußerst zwielichtige Rolle gespielt.
Nach offizieller Lesart gilt Yozgat als eines der Opfer des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds. In "Schuss in der Nacht" konfrontiert der ermittelnde Kommissar im Fall Lübcke, Norbert Bartels (Joachim Król), den LfV-Vertreter Vogel mit seinem Verdacht, der Mörder sei damals einer von Vogels Leuten gewesen. Bernd Hölscher muss diesen schwitzenden Beamten, der offenbar nur darauf aus ist, dass Ernst als Einzeltäter bestätigt wird, fast schon übertrieben unsympathisch verkörpern. Bartels und seine Kollegin (Katja Bürkle) halten den geständigen und kooperativen Mann dagegen für einen typischen Mitläufer. Um mehr über die Hintergründe der Tat zu erfahren, wollen sie Zugang zum Kopf des Verdächtigen bekommen. Robin Sondermann spielt den mutmaßlichen Mörder, der sein Geständnis später widerruft und den Beschaffer der Mordwaffe als Täter bezichtigt, eher er die Tat in einem dritten Geständnis doch wieder auf sich nimmt, fast schon beängstigend gut.
Das erste Drittel des Films konzentriert sich auf die Rekonstruktion des Tathergangs. Im mittleren Teil kommen ausführlich Freunde und Kollegen Lübckes sowie lokale Journalisten zu Wort. Zum Herzstück wird jedoch mehr und mehr jener schicksalsträchtige Abend im Oktober 2015, als der Regierungspräsident im Rahmen einer Veranstaltungsreihe über geplante Flüchtlingsunterkünfte in Lohfelden auftrat. Als er von organisierten Störern im Publikum als "Volksverräter" beschimpft wurde, sagte er jene später berühmt gewordenen Sätze, mit denen er eine Saat säte, die vier Jahre später tödlich aufgehen sollte: "Wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen". Im Saal saß damals auch Ernst.
Mindestens so wichtig wie der Tathergang war für Ley, der in Kassel aufgewachsen ist und dort an der Hochschule für Bildende Kunst studiert hat, die Frage nach dem Motiv. Ernst, einschlägig vorbestraft, spricht in der Befragung von einem Bürgerkrieg, für den er sich wappnen wollte. Das Gedankengut des Mannes, sagt Ley, sei "genährt durch jene Politik, die gern von der ‚Überfremdung der Deutschen’, von ‚Umvolkung’" spreche. Diesen Zusammenhang verdeutlicht der Regisseur durch kurze Einschübe wie die berüchtigte Aussage des damaligen AfD-Spitzenkandidaten Alexander Gauland nach der Bundestagswahl 2017 ("Wir werden sie jagen") oder die geistige Mittäterschaft am Lübcke-Mord durch die heute der AfD nahestehende frühere CDU-Politikerin Erika Steinbach.
Die Stellungnahmen von Lübckes Weggefährten ("Einer von uns") mögen zunächst nicht viel zur Wahrheitsfindung beitragen, aber das Ehepaar Ley wollte offenbar verhindern, dass "Schuss in der Nacht" ein reiner Täterfilm wird. Daher ist ihr Dokudrama nicht zuletzt eine Verbeugung vor einem Politiker, dessen Denken und Handeln von einem christlich-humanitären Weltbild geprägt war. Auch deshalb schreibt HR-Redakteurin Esther Schapira im Begleitmaterial zum Film, das Werk wende sich vor allem an die schweigende Mehrheit in unserem Land: "Die Ermordung Walter Lübckes geht uns alle an", denn die Verteidigung "unserer offenen, liberalen Gesellschaft" sei nicht delegierbar.