Günter Hänsel: Am 21. August 2021 gedenkt die Kirchengemeinde Schlachtensee des Prager Frühlings 1968. Viele Menschen sehnten sich nach mehr Freiheit und Demokratie. Warum ist es heute wichtig, dass wir des Prager Frühlings gedenken?
Ellen Ueberschär: Die 1960er Jahre waren global eine Zeit des Aufbruchs einer neuen Generation. In den sowjetisch dominierten Staaten regte sich Widerstand gegen die Diktatur. Als der Staatschef der Tschechoslowakei einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" ausrief, begeisterte er die Bürger. Das Programm war eigentlich bescheiden, aber die Hoffnungen riesengroß. Als die sowjetischen Panzer einrollten, begruben sie die Bewegung, aber die Hoffnung nicht. Der Prager Frühling gehört zu den wichtigsten Vorgeschichten von 1989.
Freiheit und Demokratie sind auch heute Motive, nach denen sich Menschen in vielen Teilen dieser Welt sehnen. Wo nehmen Sie das heute wahr?
Ueberschär: Wir können in Europa beginnen. In Belarus sind wir Zeugen einer brutalen Repression gegen eine friedliche Demokratiebewegung. Ohne die Unterstützung des Putin-Regimes wäre der Kampf dieses Diktators gegen sein eigenes Volk rasch beendet - zugunsten von Demokratie und Freiheit. Auch in Russland ist die Demokratiebewegung aktiv und stellt sich gegen gewalttätige und ständig verschärfte Repression.
Auf der Berlinale 2021 lief der erschütternde Dokumentarfilm "Courage". Der Film zeigt wie hunderttausende Menschen in Belarus im Sommer 2020 für freie Meinungsäußerung und einen Machtwechsel demonstrieren. Wenn Sie die Meldungen aus Belarus hören, was bewegt Sie dabei?
Ueberschär: In Belarus geht es um einen langen Atem. Die Menschen wollen Demokratie und sie werden weiter dafür eintreten und ihr Ziel erreichen. Wie rasch sie das schaffen, hängt auch davon ab, ob Europa und die USA entschlossen Unterstützung leisten und nicht nachlassen.
Die Menschen in Belarus leisten friedlichen Widerstand. Sie stehen ein für Freiheit und Frieden. Tun wir das heute genügend?
Ueberschär: Was ist genügend? Wir leben in einer freiheitlichen Demokratie und gerade als Christen profitieren wir enorm von unseren Freiheitsrechten. Selbst in der Coronazeit wird das Recht auf Religionsausübung gewahrt. Die Freiheit wertzuschätzen und uns für Andere stark zu machen, denen diese Rechte genommen werden, das ist unser Auftrag.
"Als Christen profitieren wir enorm von unseren Freiheitsrechten."
Im Friedensgebet und im politischen Gottesdienst beten wir für Freiheit und Frieden. Aus dem Gebet schöpfen Christinnen und Christen Zuversicht. Welche Kraft sehen Sie im Gebet?
Ueberschär: Mit Gott gibt es keine 'Deals' - nach dem Motto: Ich, Mensch, bete, und Du, Gott, hilfst mir. Aber wenn die Welt ein durchbeteter Raum ist, dann wird das spürbar, besonders für die Leidenden und Unterdrückten. Die globale Gemeinschaft der Betendenden entfaltet eine Kraft, die Flügel verleiht.
Sie haben im Jahr 2017 das beeindruckende Buch "religiös & ruhelos. Die Zukunft des Christentums ist politisch" veröffentlicht. Religiös und ruhelos – Was verstehen Sie darunter?
Ueberschär: Das Politische ist kein abgegrenzter Bereich, um den sich Parlament und Regierung kümmern. Was wir essen, wie wir die Schöpfung bewahren, wen wir lieben, ob wir einem anderen Menschen dabei helfen dürfen, sein Leben zu beenden - alles ist Gegenstand politischer Diskussion. Die Stimme eines ethisch reflektierten Nachdenkens wird dafür gebraucht. Weil ich nicht möchte, dass die öffentliche Kommunikation auf das Engagement der Christen verzichten muss, sage ich: Die Zukunft des Christentums ist politisch.
Sie schreiben im Buch: "Der Weg zu Gott führt nicht aus der Welt hinaus, sondern tief in die Wirklichkeit der Welt hinein. Nicht die Leiden der Kirche am Schwinden ihrer Ressource sind die Sorge von Christinnen und Christen, sondern die Leiden Gottes in der Welt." Wo leidet Gott heute?
Ueberschär: Diese Sätze schließen an Bonhoeffers Nachdenken über eine Kirche für Andere an. Immer dann, wenn Menschen die Würde geraubt wird, ihnen Lebenschancen verwehrt, Menschenrechte mit Füßen getreten werden, muss Kirche da sein. Hinzu kommt: Ich bin mir sicher, dass Gott auch an seiner Kirche, oder besser, an seinen Kirchen in ihrer realen Präsenz leidet.
"Immer dann, wenn Menschen die Würde geraubt wird, (...) muss Kirche da sein."
Sie formulieren "religiös & ruhelos". Dorothee Sölle formuliert "Mystik und Widerstand". Mich bewegt eine Lebensweise, die gegenwärtig ist. Gegenwärtig für dieses Lebens, für die Fragen und Themen. Und, gegenwärtig sein für das Unverfügbare, den Gottesfunken in allem. Welches Potenzial steckt in diesen Lebensweisen?
Ueberschär: Das Potenzial der Befreiung! Ich antworte mit Pierre Stutz, mit dem ich in meiner Zeit beim Kirchentag ab und an kommuniziert habe und den ich sehr schätze. Er spricht vom Glück der Unvollkommenheit, von der Fähigkeit, sich mit Menschen gelassen-kämpferisch für das Leben stark zu machen. Das Potenzial liegt also darin, sich vom Anspruch der Vollkommenheit zu befreien und in der Fähigkeit, sich gelassen mit anderen, Kolleginnen Nachbarn oder Andersdenkenden zu verbinden und Widerstand an der richtigen Stelle einzusetzen.
Sie vertreten die Überzeugung, dass die Zukunft des Christentums politisch sei. Welche konkreten Schritte müssen wir als Kirche gehen?
Ueberschär: Die evangelischen Kirchen stecken in keiner einfachen Lage. Ob wir das begrüßen oder nicht - Zahlen spielen eine große Rolle. Aber sie dürfen nicht dominieren. Nicht auf den Synoden, nicht in den Gemeinden. Ich plädiere für offenes, wertschätzendes und gelassenes Miteinander. Die Vielfalt der Kirche - gerade in der EKBO - ist eine Riesenchance, Vorbild zu sein für eine Gesellschaft, die sich in Teilen stark polarisiert. Kirche hat eine Mitte und wenn sie sich um diese sammelt, so mache ich mir um das Konkrete keine Sorgen.
Das Interview führte Pfarrer Günter Hänsel im Auftrag der Kirchenzeitung "Die Kirche". Die Redaktion von evangelisch.de bedankt sich für die Kooperation.