Psychiater: Politische Weltlage überfordert Menschen zunehmend

Psychiater: Politische Weltlage überfordert Menschen zunehmend
06.11.2020
epd
epd-Gespräch: Julia Pennigsdorf

Hannover (epd). Neben der Corona-Pandemie schlägt dem Psychiater Marc Ziegenbein zufolge auch die politische Weltlage den Menschen auf das Gemüt. Die Gleichzeitigkeit dramatischer Ereignisse wie die US-Präsidentschaftswahlen, Terrorgefahr und eine steigende Zahl an Corona-Neuinfektionen werde zunehmend zu einer Überforderung, sagte der Chefarzt des Klinikums Wahrendorff in Ilten bei Hannover dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Das sehen wir an den steigenden Anfragen, die uns im ambulanten Bereich aber auch in den Tageskliniken erreichen."

Anfänglich könnten Menschen mit krisenhaften Situationen in der Regel recht gut umgehen. Dauere die Krise aber ohne klare Perspektive auf eine Verbesserung an, bedeute das für viele Menschen eine Herausforderung, die sie nicht immer alleine bewältigen können. "Wenn ich wüsste, wann die Pandemie vorbei ist oder sich die Weltlage wieder entspannt, wäre es einfacher. Aber genau das vermag ja niemand zu sagen", erläuterte Ziegenbein.

Da Körper und Seele eine Einheit bildeten, können Gefühle wie Hilflosigkeit oder Überforderung auch zu körperlichen Beschwerden führen, etwa Niedergeschlagenheit, Kopfschmerzen, Verspannungen, Antriebslosigkeit und Schlafstörungen, betonte der Psychiater. "Das wird am Anfang meist nur als diffuses Gefühl wahrgenommen, ist aber für die Betroffenen durchaus anstrengend", betonte Ziegenbein.

Eine typische Reaktion auf den Stress und die Überforderung sei der Rückzug ins Private. "Die Menschen schaffen sich ihr sicheres Refugium", sagte Ziegenbein. "Das kann helfen, aufzutanken und Kraft zu schöpfen." Menschen, die sich von der aktuellen Krise überfordert fühlen, empfiehlt der Psychiater, aktiv Abstand zu Belastendem zu suchen und sich auf Positives zu fokussieren. Das könne etwa bedeuten, auch einmal bewusst auf den Konsum von Medien und Nachrichten zu verzichten, das Gespräch mit Freunden zu suchen oder in der Natur spazieren zu gehen.

Grundsätzlich gehöre Stress laut Ziegenbein aber zum Leben. "Wer die eine oder andere Nacht schlecht schläft, muss sich noch keine Sorgen um seine Verfassung machen." Erst wenn beeinträchtigende Symptome über einen Zeitraum von mehreren Wochen andauerten, der Betroffene selber Veränderungen an seinen Reaktionsweisen spüre oder entsprechende Rückmeldungen aus dem persönlichen Umfeld bekomme, sei psychologische Beratung angezeigt. "Es muss sich auch dann noch nicht um eine ernsthafte Erkrankung handeln", betonte Ziegenbein. Rechtzeitig Hilfe in Anspruch zu nehmen, könne aber bei der Problembewältigung helfen.