Während Grüne und Linke sich für eine Novelle des Neutralitätsgesetzes ausgesprochen haben, hält die SPD am bisherigen Gesetz fest. Was raten Sie dem Berliner Senat?
Jörg Antoine: Grundsätzlich möchte ich daran erinnern, dass das Bundesverfassungsgericht 2015 ein gut verständliches und klares Urteil in Sachen Kopftuch gefällt hat. Das Urteil besagt: Wenn es keine konkrete Gefahr für den Schulfrieden gibt, sind religiöse Symbole auch bei Lehrerinnen im Schuldienst zulässig. Entscheidend ist, was die Lehrerinnen im Kopf haben und nicht, was sie auf dem Kopf tragen. Auch für den Polizei- und Vollzugsdienst kann ich mir diese Richtung gut vorstellen, ebenso im Referendariat der Juristenausbildung. Wenn wir mehr Gelassenheit im Umgang mit religiösen Symbolen entwickelt haben, dann halte ich diese liberale Haltung sogar für den Richterdienst in unserer pluralen Gesellschaft für möglich.
Das Bundesverfassungsgericht hat 2015 auch darauf verwiesen, dass ein pauschales Verbot religiöser Symbole verfassungswidrig ist. Dennoch hält der Berliner Senat bislang daran fest. Wie könnte Ihres Erachtens eine mehrheitsfähige Novelle aussehen, die auch für die Religionsgemeinschaften akzeptabel wäre?
Antoine: Die Berliner Politik tun sich mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2015 sehr schwer. Religiöse Neutralität im staatlichen Bereich wird in Berlin traditionell im Osten wie im Westen groß geschrieben. Dass das Grundgesetz vielmehr ein Modell der Kooperation zwischen Staat und Religionsgesellschaften vor Augen hat, wird in Berlin zu wenig beachtet. Zum Teil stoße ich hier in Berlin auf eine historisch begründete Ablehnung gegenüber Religionsgemeinschaften. In Fragen des Kopftuchs kommen nach meiner Beobachtung noch Ängste vor einem politischen Islam hinzu. Vermutlich brauchen wir einen Bildungsprozess, hin zu mehr Toleranz gegenüber Religionen und ihren Symbolen. Es muss mit einer Öffnung für den Schuldienst anfangen und sukzessive auch in den anderen staatlichen Bereichen weitergehen, damit wir uns den Vorgaben des Grundgesetzes annähern.
Welche Rolle kommt in diesem Streit den Religionen und dem interreligiösen Dialog zu? Schließlich gibt es zum Kopftuch auch innerhalb der muslimischen Community, aber auch in den anderen Religionsgemeinschaften unterschiedliche Meinungen.
Antoine: In einer liberalen Grundrechtsordnung müssen wir um der Freiheit der Menschen willen vieles erlauben und ertragen, was nicht unserer Auffassung entspricht; sogar das, was wir nicht vernünftig und vielleicht sogar schädlich finden. Im interreligiösen Dialog bin ich für ein offenes, ehrliches und kritisches Gespräch. Wir müssen zu verstehen suchen, warum unser Gegenüber etwas macht, was uns zunächst nicht plausibel erscheint. Und natürlich: zum Wahrnehmen und Ernstnehmen gehört auch der kritische Dialog. Beim Kopftuch habe ich einige kritische Fragen. Einmal im Blick auf die angeblich religiöse Verpflichtung, die mir nicht einleuchtet. Dann im Blick auf das Frauenbild und die Gleichberechtigung von Männern und Frauen in vielen islamisch geprägten Ländern. Als Begründung höre ich regelmäßig, dass Frauen sich verhüllen sollen, damit die Männer nicht zu übergriffigem Verhalten provoziert werden. Da frage ich mich, was sind das für Männer und für Männlichkeitsbilder? Da würde ich doch eher den Männern mal ein paar Verhaltensregeln mit auf den Weg geben, anstatt den Frauen Kleidervorschriften zu machen.