Eines verwundert die Erziehungswissenschaftlerin Lia besonders: "Wenn sich eine gehörlose Frau an eine Behörde wendet, weil ihr Partner gewalttätig ist, dann wird dieser oft eher angehört als die Frau", sagt die 30-Jährige. Oft fehle Geld für eine Gebärdensprachdolmetscherin. Mitarbeitende der Behörde finden es ungewohnt und kompliziert, sich in eine Gehörlose hineinzuversetzen und sie zu verstehen. "Was sie sagt, geht unter", sagt Lia.
Sie arbeitet für das Frauenzentrum "Paula Panke", das nach dem Fluss benannt ist, der durch den Berliner Bezirk Pankow fließt. Lias wirklicher Name soll nicht veröffentlicht werden, da sie mit Frauen arbeitet, die Gewalt erlitten haben. Sie befürchtet, von Tätern angegriffen zu werden. Das Frauenzentrum wirkt neben dem Gehörlosenverband Berlin, der Berliner Polizei sowie mehreren Sozial- und Fördereinrichtungen an einem Aktionsbündnis mit, das sich gegen Gewalt an gehörlosen Menschen wendet. Es wurde 2012 von Pfarrer Roland Krusche mitbegründet. Er ist Gehörlosenseelsorger in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO). Kolleginnen und Kollegen von ihm sind in anderen Landeskirchen tätig.
Roland Krusche schätzt, dass in der Hauptstadt 7.000 Gehörlose leben, von denen ein knappes Drittel evangelisch ist. Im Land Brandenburg seien es noch einmal genauso viele. Der Geistliche, der die Gebärdensprache beherrscht, organisiert jeden Monat zwei bis drei Gottesdienste für Gehörlose. Drei weitere Pfarrer bieten Gehörlosenseelsorge in kleineren Orten in Brandenburg an.
Die Gewalt gegen gehörlose Menschen habe eine lange Tradition, sagt der promovierte Theologe: "Von 1880 bis in die Nazizeit war die Gebärdensprache verboten, weil Gehörlose sich auf das für sie komplizierte Lippenlesen konzentrieren sollten. Eine katastrophale Fehlentscheidung", der sich viele evangelische Pfarrer widersetzt hätten: "Ihnen war es vor allem wichtig, dass die Gehörlosen und sie sich verständigen konnten." Kinder, die in der Schule trotz Verbot gebärdeten, seien von Lehrern mit dem Rohrstock geschlagen worden. Auch in der Bundesrepublik und in der DDR hätten Gehörlose in Heimen und Internaten Gewalt erlitten.
Unter der Trägerschaft von "Paula Panke" befindet sich eine von zwei Zufluchtswohnungen in Berlin, welche nach den Bedürfnissen gehörloser Frauen ausgestattet sind. Technische Voraussetzungen wie eine Lichtklingel, ein Faxgerät, einen Rüttelwecker und vor allem Beratungen mit Gebärdensprachdolmetscherin finden diese außerdem in zwei der insgesamt sechs Frauenhäuser der Hauptstadt. Lia meint, dass das zu wenig sei. Gehörlose Frauen würden überdurchschnittlich häufig Opfer von körperlicher, sexualisierter und psychischer Gewalt. Das bestätigt eine Studie der Uni Bielefeld aus dem Jahr 2012. "Wir erfahren häufig von gehörlosen Frauen, die von ihrem Partner bedroht, schlecht gemacht und runtergeputzt wurden", sagt Lia. "Die Frau erkennt ja an Mimik und Gestik, dass sie angeschrien wird oder dass der Partner sich abfällig über sie äußert." Häufig würde sich nicht die Frau selbst melden, sondern Personen, die sie unterstützen. Und wenn die Frau den gewalttätigen Partner schließlich verlässt, dann oft nicht um ihrer selbst willen, sondern zum Schutz ihrer Kinder.
Die Mitarbeiterinnen von "Paula Panke" befürchten, dass die Gewalt in der Pandemie noch zugenommen hat. Nachfrage bei der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen (BIG): Die Mitarbeiterinnen unterstützen Frauen dabei, einen Zufluchtsort zu finden. Sie sind telefonisch, per SMS und Fax sowie per Mail erreichbar. BIG verzeichnete zu Beginn der Corona-Krise keine Zunahme von Hilferufen – egal ob von hörenden oder gehörlosen Frauen – wohl aber nach den Lockerungen am 23. April. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum kamen ein Drittel mehr Anrufe als im Vorjahreszeitraum. Gehörlose Frauen seien jedoch nicht überdurchschnittlich vertreten, sagt eine Mitarbeiterin.
"Die Dunkelziffer ist hoch", sagt hingegen die Sozialarbeiterin Manuela Bublitz. Von Gewalt betroffene gehörlose Frauen könnten sich nicht gut bemerkbar machen – generell nicht und erst recht nicht in der Corona-Krise. Sie ist in der Sozialen Beratungsstelle für Gehörlose unter dem Dach der EKBO tätig. Zu ihren Aufgaben gehört es, gehörlose Menschen zu Fragen des täglichen Lebens zu beraten und beim Umgang mit den Behörden zu unterstützen. Bublitz, die selbst gehörlos ist, hat eine Gebärdensprachdolmetscherin beauftragt, ihre Äußerungen in der Lautsprache wiederzugeben: "In vielen Familien brodelt es, und die Frauen müssen das aushalten. Wir erleben eine besondere Situation. Viele Menschen sind wie erstarrt."
Manuela Bublitz und Roland Krusche benennen eine Vielzahl von Faktoren, die von der Bielefelder Studie bestätigt werden. Es fängt damit an, dass Gehörlose von klein auf mehr an körperliche Berührungen gewöhnt sind als Hörende. Wenn jemand mit ihnen kommunizieren will, tippt er sie an. Pfarrer Krusche berichtet von Eltern, die den Kopf ihres gehörlosen Kindes unsanft in ihre Richtung drehen, um ihm dann etwas mitzuteilen. Dass Berührungen am Po und am Busen nicht in Ordnung sind, ist vielen gehörlosen Frauen gar nicht so klar. Etliche entwickeln nicht genug Selbstbewusstsein, das sie aber bräuchten, um sich zu wehren. Das wiederum ermutigt die Täter, die wissen, dass sich das Opfer nur unter Schwierigkeiten mitteilen kann.
"Gehörlosen stehen generell weniger Informationen zur Verfügung als Hörenden", sagt Manuela Bublitz. Auch die zahlreichen Hilfsangebote für Gewaltopfer seien auf die Bedürfnisse von Hörenden ausgerichtet. Ein Beispiel: Wenn eine Frau ihren schlagenden Ehemann endlich anzeigen will, greift sie zumeist zum Telefon. Zwar können Gehörlose ein Fax an die Polizei, eine SMS an BIG oder an "Paula Panke" schicken. "Doch auch wenn sie in Deutschland geboren sind, ist die deutsche Schriftsprache für sie eine Fremdsprache", sagt Bublitz. Es falle ihnen schwer, ihren Hilferuf auszudrücken und auf Fragen zu antworten. "Die Frau kann auch nicht ungestört Nachrichten schreiben, wenn der Mann wegen der Kontaktbeschränkungen die ganze Zeit in ihrer Nähe ist", sagt die Sozialarbeiterin. Auch fürchten manche Gehörlose den Klatsch in der Gehörlosenszene, wenn bekannt wird, dass es in ihrer Partnerschaft kriselt.
Pfarrer Krusche berichtet, dass viele Gehörlose immer wieder schlechte Erfahrungen mit Hörenden gemacht haben. Er spricht von zwei Kulturen, die einander fremd bleiben. Zwar habe gerade die Polizei in den vergangenen Jahren viele Schritte unternommen, um besser auf Gehörlose einzugehen. Doch es bleibe "ein Riesenvertrauensproblem". Manuela Bublitz sagt: "Ich wünsche mir mehr barrierefreie Angebote für gehörlose Gewaltopfer und dass Menschen, die die Gebärdensprache nutzen, nicht diskriminiert werden."