Als Pfarrer Hendrik Korthaus an diesem Samstag in Witten die Gemeinde begrüßt, ist er kaum zu verstehen: Er spricht sehr leise. In der Küche gegenüber klappert jemand mit Geschirr. Außerdem wird die Stimme des Pfarrers oft übertönt von einem kleinen Jungen, der auf dem Boden spielt. Eigentlich keine idealen Bedingungen für einen Gottesdienst. Aber die zwölf Männer und Frauen in dem Versammlungsraum des Wittener Gehörlosenvereins folgen trotzdem aufmerksam seinen Worten. Ihnen machen der Lärm und die leise Stimme ihres Pfarrers überhaupt nichts aus. Denn sie können ihn sowieso nicht hören.
Liturgie, Lesung, Predigt, Segen, Abkündigungen: All das vermittelt Pfarrer Korthaus mit Gebärden. Während er gebärdet, spricht er die Worte manchmal laut mit – dann aber in der Grammatik der Gebärdensprache: kaum Konjunktionen, die Verben ungebeugt, dafür mit vielen Hauptwörtern und einer starken Bildsprache: "Jetzt wir zusammen Gottesdienst feiern. Wir sind zusammen mit Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist", beginnt er den Gottesdienst. "Manchmal wir böse denken. Nicht gut. Manchmal wir böse gebärden – nicht gut. Manchmal wir böse tun – nicht gut. Schuld. Sünde. Herr – du Erbarmen schenkst. Christus – du Erbarmen schenkst."
So klingt Gebärdensprache – unmittelbar, prägnant, direkt. Eine Fremdsprache für Pfarrer Korthaus; für viele der Gottesdienstbesucher die Muttersprache, der beste Weg, sich miteinander zu verständigen. Und gemeinsam zu singen – wenn auch ohne Ton. "Einen Organisten brauchen wir nicht zu bezahlen", scherzt Hendrik Korthaus. Er gebärdet die Liedtexte vor, die Gemeinde macht mit – eine Art choreografierter Tanz mit den Händen.
Gott gebärdet gern – ein neuer Gedanke
Das bekannteste Gehörlosen-Kirchenlied beginnt mit der Strophe "Gott gebärdet gern – er gebärdet mit dir, er gebärdet mit mir, er versteht die Gebärden." Ein Gedanke, der in seiner Einfachheit vielleicht zunächst schmunzeln lässt. In ihm steckt jedoch ein Stück traurige Geschichte: Viele Jahrhunderte lang ging die Kirche davon aus, dass Gehörlose keinen Zugang zu Gott haben können.
###mehr-artikel###
"Wer von Gott ist, der hört Gottes Worte; ihr hört darum nicht, weil ihr nicht von Gott seid", sagt Jesus im Johannesevangelium (Kapitel 8, Vers 47). Die Botschaft schien klar: Hören ist verstehen. Verstehen ist glauben. "Wer nicht hören kann, kann daher auch nicht glauben", soll der Kirchenlehrer Augustinus gesagt haben, der im 4. und 5. Jahrhundert lebte. Er bezog sich dabei auf einen Vers im Römerbrief: "Wie sollen sie aber an den glauben, von dem sie nichts gehört haben?" (Kapitel 10, Vers 14) Wem Gott also die Ohren verschließt, der kann nicht zu ihm finden. Ganz offensichtlich, so dachten die Kirchenväter, will Gott also von Gehörlosen – damals Taubstumme genannt – nichts wissen.
Kirche in Gebärdensprache
Erst im 16. Jahrhundert begannen Klöster vereinzelt, Gehörlose in Gebärdensprache zu unterrichten. Fingeralphabete und Gebärdencodes waren bereits von Mönchen erfunden worden, die ein Schweigegelübde abgelegt hatten. Im 18. Jahrhundert entstanden erste Gehörlosenschulen in ganz Europa.
Bis ins 20. Jahrhundert hinein war das Gebärden jedoch immer wieder umstritten. Bei einem großen Kongress von "Taubstummen-Pädagogen" 1880 in Mailand beschlossen die versammelten Lehrer (sämtlich des Hörens mächtig), dass Gehörlose nicht mehr in Gebärdensprache unterrichtet werden sollten, da es insgesamt vorzuziehen sei, wenn sie Lippen läsen und Lautsprache – also gesprochene, nicht gebärdete Sprache – lernten. Die gebärdensprachliche Kultur konnte sich daher viele Jahrzehnte lang nicht weiterentwickeln.
Gebärdensprachliche Wende der Seelsorge
Erst spät begann die Kirche, Gebärdensprache als vollwertige Sprache anzuerkennen. Die Deutsche Arbeitsgemeinschaft der evangelischen Gehörlosenseelsorge (DAFEG) spricht von einer "gebärdensprachliche Wende" in den 1990er Jahren. Heute wird im Gehörlosengottesdienst, in seelsorgerlichen Gesprächen oder bei kirchlichen Freizeitangeboten ganz selbstverständlich gebärdet.
Leif Viola findet das toll – obwohl er gesprochene Sprache eigentlich ganz gut versteht. Der 34-jährige Diplompädagoge ist nach mehreren Hörstürzen schwerhörig. Er besucht heute zum ersten Mal den Gehörlosengottesdienst in Witten mit seiner hörenden Familie. "Gebärden können viel geben, viel zeigen", findet er. "Mimik, Gestik, diese Körperlichkeit der Sprache – das berührt mich mehr, als wenn ich in einem normalen Gottesdienst als Schwerhöriger angestrengt lauschen muss."
Ihn fasziniert die Gehörlosenkultur – eine Kultur, die stark geprägt ist durch die Bildhaftigkeit der Gebärdensprache. Unter anderem deshalb habe er sich bewusst für die Gebärdensprache entschieden, obwohl sein Arzt ihm ein Cochlea-Implantat empfohlen habe, erzählt Leif. Mit einer solchen Hörprothese werden heute immer mehr Schwerhörige und Gehörlosen versorgt; oft können damit große Teile der Hörfähigkeit wiederhergestellt werden. Besonders unter gehörlosen Kindern und Jugendlichen sind Cochlea-Implantate (CI) weit verbreitet; werden sie früh eingepflanzt, hat es der Träger leichter, lautsprachlich sprechen zu lernen.
Zurück zur Lautsprache?
Seine gehörlosen Konfirmanden hätten fast alle ein CI, sagt Pfarrer Korthaus. Doch er sieht diesen medizinischen Fortschritt nicht ausschließlich positiv. "Das Problem ist: Junge Menschen mit CI werden oft nicht mehr so umfassend in Gebärdensprache ausgebildet." Das könne später zum Problem werden, wenn die Hörfähigkeit doch wieder abnehme. Und: "Viele Gehörlose befürchten, dass ihre Kultur aussterben könnte. Das wäre schade, denn Gebärden sind eine sehr schöne Sprache."
###mehr-links###
Muss sich die Gehörlosenseelsorge also bereits wieder umorientieren, hin zu mehr lautsprachlichen Angeboten? Nein, sagt Friedhelm Zeiß, Vorsitzender des Vorstands der DAFEG, die die Entwicklung der evangelischen Gehörlosenseelsorge begleitet. "Für die Gehörlosenseelsorge wird sich da erst mal gar nicht so viel ändern: Wir werden auch weiterhin für die gehörlosen Menschen da sein, die in der traditionellen Gehörlosenkultur aufgewachsen sind." Wenn diese Strukturen sich rückläufig entwickelten, werde die Gehörlosenseelsorge für eine gewisse Zeit umso mehr gefragt sein und sich gerade um diese älteren Gebärdensprachlichen kümmern, bei denen die Mobilität ab- und die Einsamkeit zunehme.
Zeiß sieht aber auch eine wichtige Aufgabe darin, die neue Generation hörgeschädigter Menschen zu begleiten. Und diese Begleitung werde immer in erster Linie eine gebärdensprachlich-visuelle sein. Zu dieser neuen Generation, so Zeiß, würden taube und schwerhörige Menschen ohne CI, aber auch gebärdensprachliche CI-Träger gehören. Das verbindende Element sei eben die Gebärdensprache und nicht der Hörstatus. "Wir haben die Aufgabe, den Menschen in ihrer Sprache und vor ihrem kulturellen Hintergrund Mut zu machen, ihr Vertrauen auf Gott zu setzen."
Gehörlosenkirche: Ort der Kommunikation
Denn viele Angebote der Gehörlosenseelsorge zielen genau darauf, gehörlose Menschen zusammenzubringen und ihnen die Kommunikation miteinander zu ermöglichen. Eine Kommunikation, die ihnen im Alltag oft fehlt. "Wir hörenden Menschen ja kommunizieren, sobald wir zum Bäcker gehen. Für Gehörlose ist das nicht so", sagt Pfarrer Korthaus, und zitiert die taubblinde Schriftstellerin Helen Keller: Blind sein trennt von Gegenständen, gehörlos sein trennt von Menschen.
Er habe sich deshalb angewöhnt, Veranstaltungen immer etwas früher anzusetzen – denn seine gehörlosen Gemeindemitglieder bräuchten mindestens eine halbe Stunde, um sich das Neueste aus ihrem Leben zu erzählen. Und tatsächlich: Beim Kirchenkaffee in Witten geht es genau so lebhaft zu wie beim Gehörlosentreff in einem Seniorenzentrum in Dortmund. Die Gemeindemitglieder gestikulieren lebhaft miteinander. Die 61-jährige Erna Tischer sagt: "Wichtig ist, dass man sich trifft, dass man zusammen gebärdet, dass Verstehen da ist, wie es in dem Lied 'Gott gebärdet gern' auch heißt. In den eigenen vier Wänden zu sitzen, das geht gar nicht – da würde man verdummen. Man will sprechen mit den anderen."
Gebärdete Verkündigung
Ihre Freundin, die 90-jährige Anna Oswald, kann sich noch an eine Zeit erinnern, als in der Schule Gebärdensprache verboten war. Auch in der Kirche im Gottesdienst habe sie von den Lippen ablesen müssen, übersetzt Hendrik Korthaus. "Früher konnten die Gehörlosenseelsorger nur wenig gebärden, sie sollten stattdessen langsam und deutlich sprechen." Auch Dolmetscher gab es selten. Heute haben Gehörlose bei Beerdigungen, Taufen und Hochzeiten einen Anspruch auf einen Gebärdendolmetscher.
Gehörlosenkultur und Gebärdensprache nicht als Defizit, sondern als Chance für die Verkündigung zu begreifen – das sei die Hauptaufgabe der Gehörlosenseelsorge, sagt Pfarrer Korthaus. Die Bibel gibt ihm recht – und zwar ausgerechnet der Vers aus dem Römerbrief, auf dessen Basis Augustinus die Taubstummen für glaubensunfähig erklärte. Man muss ihn nur zu Ende lesen: "Wie sollen sie aber an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie aber hören ohne Prediger?" (Römer 10,14) Ein klares Plädoyer für Kirche in Gebärdensprache.
Dieser Beitrag erschien erstmals am 23. März 2014 auf evangelisch.de.