"Ein Gottesdienst ohne Singen ist kein Gottesdienst"

Sonntag "Kantate" ohne Gemeindegesang wegen Corona
© epd-bild / Jens Schulze
Das Gesangbuch bleibt zu kommendem Sonntag "Kantate", der "Singt!" bedeutet, ersteinmal unbenutzt. Denn Gemeinden dürfen wegen der Corona Pandemie nicht mitsingen.
"Ein Gottesdienst ohne Singen ist kein Gottesdienst"
Kirchenmusikdirektor über Gottesdienste ohne Gemeindegesang in Corona-Zeiten
Der evangelische Gottesdienst lebt vom Gesang der Gemeinde, ist der Nagolder Kirchenmusikdirektor Peter Ammer überzeugt. Deshalb dürfe in Corona-Zeiten ein Singverbot für Kirchgänger nicht zur Regel werden, sagt er im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Ammer ist Vizepräsident des Verbandes Evangelischer Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker in Deutschland (VEM) und einer der beiden Vorsitzenden des Verbandes Evangelische Kirchenmusik in Württemberg.
05.05.2020
epd
Judith Kubitscheck

Herr Kirchenmusikdirektor Ammer, seit dem 4. Mai ist es wieder erlaubt, Gottesdienste in Baden-Württembergs Kirchen zu feiern. Am 10. Mai werden die ersten Kirchengemeinden wieder zum Gottesdienst einladen - allerdings unter strengen Auflagen: Zum Beispiel ist der Gemeindegesang in beiden evangelischen Landeskirchen und katholischen Diözesen verboten. Was sagen Sie dazu?

Peter Ammer: Am kommenden Sonntag ist der Sonntag "Kantate", der "Singt!" bedeutet. Normalerweise hätten wir da ein Kindermusical und abends ein Konzert mit Gemeindegesang aufgeführt. Ausgerechnet an einem Sonntag wie diesem wird einem als evangelischem Christ der Mund verboten, das hat zu einem Aufschrei unter den haupt- und nebenberuflichen Kirchenmusikern geführt. Der evangelische Gottesdienst lebt vom Gesang der Gemeinde, deren Beteiligung und Funktion Teil der Verkündigung ist. Eigentlich wird ohne Gemeindegesang der evangelische Gottesdienst ad absurdum geführt.

Das heißt, Sie wären dafür, unter solchen Umständen lieber weiter nur Online-Gottesdienste anzubieten und abzuwarten, bis man auch wieder in Kirchen singen darf?

Ammer: Alle meine Chorsänger sagen mir: 'Ich schaue lieber weiter zu Hause den Online-Gottesdienst an und singe in meinem Wohnzimmer aus vollem Herzen als in der Kirche den Mund halten zu müssen'.

Und wie sieht es mit Ihnen aus?

Ammer: Als evangelischer Kirchenmusiker müsste ich mich eigentlich querstellen und sagen, ein Gottesdienst ohne Singen ist kein Gottesdienst und einen solchen boykottieren. Aber das werde ich natürlich nicht machen (lacht). Meine Frau wird am kommenden Sonntag die Lieder singen und ich spiele Orgel. Das ist sozusagen repräsentatives Singen. Sie singt für die anderen, die nicht dürfen. Aber das darf nicht zur Regel werden. Ich will, dass die Gemeinde mitsingt und nicht entmündigt wird.

"Kirchenlieder sind die Stimme unserer Väter und Mütter der Kirchengeschichte"

Wieso, sie kann doch auch zuhören, oder?

Ammer: Der Gemeindegesang ist das, was uns als Gemeinschaft bestärkt und die Kirchenlieder sind die Stimme unserer Väter und Mütter der Kirchengeschichte, die wir zum Klingen bringen. Außerdem ist das Entscheidende beim Singen die Verbindung von Melodie und Text, was beide Gehirnhälften aktiviert und das Herz und den Geist anspricht. Meine Chorsänger sagen: "Singen ist das, was uns in der Corona-Zeit am Leben hält. Gerade jetzt muss ich für mich und andere singen."

Manche Landeskirchen, wie beispielsweise die Evangelische Landeskirche in Bayern lassen einen "reduzierten Gemeindegesang mit Mund-Nasen-Bedeckung" zu. Warum Baden-Württembergs Kirchen nicht?

Ammer: Ich bin da zwiegespalten. Natürlich müssen die Regelungen konsequent durchgeführt werden, um eine Ausbreitung des Virus zu verhindern. Und niemand möchte, dass sich so etwas wie im hohenlohischen Dörfchen Eschental wiederholt, wo am 1. März noch vor den Corona-Beschränkungen nach einem Konzert mit Sängern und Posaunenchor 100 Infektionen gemeldet wurden. Da werbe ich auch um Verständnis für die kirchlichen Entscheidungsträger. Und trotzdem führt es bei mir zu Unmut, wenn Bundesländer mit ähnlichen Fallzahlen wie Bayern singen dürfen und wir nicht. Auch warum bei einem Gottesdienst im Freien nur ein einziger Bläser spielen darf, und warum es verboten ist, dass Gottesdienstbesucher auf der Empore sitzen, die ja sowieso nicht singen dürfen, kann ich nur schwerlich nachvollziehen.

Durch Ihre Verbandsarbeit vertreten Sie viele Kirchenmusiker. Was bekommen Sie in dieser Funktion derzeit von Ihren Kollegen zu hören?

Ammer: Vor Corona sahen sich Kirchenmusiker als systemrelevant für einen Gottesdienst - und müssen jetzt feststellen, dass sie es nicht sind, ja sogar durch ihre Chorarbeit als systemgefährdend gelten. Das ist bitter. Manche, die von Honoraren leben, fürchten auch um ihre Existenz. Außerdem prognostizieren viele, dass sich die Chorlandschaft durch die Pandemie radikal verändern wird.

Manche Chöre werden wegbrechen, andere werden ihr Niveau nicht halten können. Wenn meine Soprane sechs Wochen nicht gesungen haben, verliert ihre Stimme an Höhe und Elastizität. Es wird Wochen dauern, bis ich meinen Chor wieder auf dem Stand habe, den er zuvor hatte, und beispielsweise wieder ein Oratorium oder eine anspruchsvolle Motette aufführen kann.

Aber mehr besorgt mich, dass durch die Chorarbeit ein wesentlicher Teil der Gemeindearbeit wegbricht. Chöre treffen sich wöchentlich und bringen sich auch regelmäßig in Gottesdienst und anderen Gemeindeveranstaltungen ein. Da geht viel von Gemeindeaufbauarbeit, Gemeindeleben und Gottesdienstkultur verloren. Und ich weiß nicht, ob wir das in einer "neuen Normalität" dann wieder entsprechend hochziehen können.