Eine Kindheit in der "Wartehalle für Auschwitz"

Michaela Vidláková im Gespräch mit Schülerinnen des St.-Ursula-Gymnasiums in Freiburg.
© Lena Christin Ohm
Michaela Vidláková im Gespräch mit Schülerinnen des St.-Ursula-Gymnasiums in Freiburg.
Eine Kindheit in der "Wartehalle für Auschwitz"
Über 30.000 Menschen sind in Theresienstadt ums Leben gekommen – ungefähr so viele wie im KZ Buchenwald. Mehr als 88.000 Menschen wurden von dort aus weiter in die Vernichtungslager der Nationalsozialisten deportiert, weshalb Theresienstadt auch als "Vorzimmer des Todes" oder "Wartehalle für Auschwitz" bezeichnet wird. Michaela Vidláková, geborene Lauscherová, hat in ihrer Kindheit den Einmarsch der Deutschen in die Tschechoslowakei, die Einführung der judenfeindlichen Gesetze und schließlich zweieinhalb Jahre Theresienstadt überlebt. Einblicke in eine gestohlene Kindheit.

Langsam füllt sich der Raum. Die Schulglocke läutet erneut, ruft die Schülerinnen des St.-Ursula-Mädchengymnasiums in Freiburg in den Unterricht. Draußen verhallen die letzten Geräusche. Und plötzlich ist es ruhig, ganz ruhig. Alle Blicke richten sich auf die alte Dame, die an einem Tisch vor der weißen Wand sitzt. Sie lächelt freundlich, wartet darauf, vorgestellt zu werden.

Michaela Vidláková ist solche Situationen gewohnt: Regelmäßig sitzt sie vor Schulklassen und wartet darauf, dass sie anfangen kann, zu erzählen. Von früher. Von ihrer Kindheit. Von Theresienstadt. Denn die heute 83-Jährige hat als Kind in Prag in der damaligen Tschechoslowakei gelebt und nach der Besetzung durch die Deutschen die mörderische Verfolgung der Nationalsozialisten überlebt.

Michaela Vidláková mit ihren tschechischen Spielkameraden.

"Eine meiner frühesten Erinnerungen" setzt Vidláková an und zeigt auf ein Kinderfoto von sich und zwei weiteren Kindern, das über den Beamer an die Wand geworfen wird, "ist die an meine tschechischen Spielkameraden. Mit ihnen habe ich im Park gespielt und es hat niemanden interessiert, dass ich ein jüdisches Mädchen war." In ihrer Stimme schwingt Wehmut mit, als sie davon berichtet, wie sich im März 1939 mit dem Einmarsch der Deutschen in Prag und der Errichtung des "Protektorats Böhmen und Mähren" alles für sie änderte.

Die judenfeindlichen Gesetze, die die Nationalsozialisten bis dato im "Dritten Reich" erlassen hatten, galten nun auch für die tschechischen Jüdinnen und Juden. Zu diesem Zeitpunkt ist Michaela Vidláková gerade mal zwei Jahre alt, aber später bekommt auch sie die Einschränkungen zu spüren: "Mit einem Mal durfte ich nicht mehr im Park spielen, ich durfte nicht ins Schwimmbad gehen und als alle im Kino "Schneewittchen" schauten, durfte ich als jüdisches Kind das Kino nicht betreten."

Michaelas Vater, Georg Lauscher hält stolz seine Tochter auf dem Arm.

Auch das Kindermädchen Theresia, von Michaela nur liebevoll Resi genannt, darf als Nicht-Jüdin nicht länger für die Familie arbeiten. Ein herber Verlust für das kleine Mädchen. "Ich habe die Resi sehr geliebt", erinnert sich Vidláková lächelnd. "Wenn sie im Haushalt gearbeitet hat, war ich immer in ihrer Nähe und spielte zu ihren Füßen."

Michaela Vidláková mit ihrem Kindermädchen Resi

Neben dem Verlust von Resi ist es ein weiteres Verbot, das Michaela Vidláková als kleines Kind schrecklich schmerzt: Die Nationalsozialisten untersagen, dass sich Juden und Nicht-Juden zusammen in der Öffentlichkeit zeigen, sich miteinander unterhalten. Die Eltern ihrer tschechischen Spielkameraden nehmen dieses Verbot aus Angst vor den Deutschen ernst und verbieten ihren Kindern jeglichen Kontakt mit der kleinen Michaela. "Sie durften nicht einmal antworten, wenn ich ihnen auf der Straße 'Hallo' gesagt oder sie gefragt habe, wie es ihnen geht", erinnert sich Vidláková. "Sie haben so getan, als sei ich nicht da. Ich war so verlassen, so ausgegrenzt von der kindlichen Gesellschaft. Das hat mir tatsächlich wehgetan. Meine Freunde haben sich nicht mehr zu mir bekannt."

Georg und Irma Lauscher, Michaela Vidlákovás Eltern, leiden vor allem unter den wirtschaftlichen Sanktionen gegen die jüdische Bevölkerung: Sie müssen ihre finanziellen Reserven – Gold, Schmuck, Wertpapiere, Sparbücher und alles von Wert – abgeben und alle technischen Geräte wie Radios, Plattenspieler, Fotoapparate, Schreib- und Nähmaschinen sowie Musikinstrumente zu einer Sammelstelle bringen.

Georg und Irma Lauscher mit ihrer Tochter Michaela.

"Ich weiß noch genau, dass meine Mutti ein Klavier besessen hat und auch das war auf einmal weg. Nur meine kleine Blockflöte, die durfte ich behalten", erzählt Vidláková. Wie so viele andere jüdische Familien stürzten diese Anordnungen auch ihre Familie in große Armut.

Schlimmer wird die Situation dann noch durch die Entlassung des Vaters. Georg Lauscher bekleidet als technischer Direktor einer Pelzfabrik nach Ansicht der Nationalsozialisten einen zu hohen Posten für einen Juden. Fast nur noch schwere physische Arbeit oder Aufgaben ohne hohes gesellschaftliches Ansehen dürfen von Juden verrichtet werden. Georg Lauscher hat Glück im Unglück und findet nach einiger Zeit zumindest eine Stelle als unqualifizierter, schlecht bezahlter Arbeiter in einer Holzwerkstatt.

1941 trifft die Familie dann die nächste Anordnung der Nationalsozialisten hart: Sie müssen ihre moderne Wohnung mit Fernheizung und Warmwasseranschluss für einen SS-Mann räumen. "Drei Tage hatten wir Zeit, eine neue Wohnung zu finden. Aber wie? Wir waren mittlerweile sehr arm und niemand wollte Juden im Haus haben", so Vidláková. Georg und Irma Lauscher bleibt nichts anderes übrig, als mit der mittlerweile vierjährigen Michaela in eine sogenannte "jüdische Sammelwohnung" zu ziehen. "Dort wohnten wir mit drei anderen Familien zusammen – 14 Personen waren wir, jede Familie hatte ein Zimmer", erinnert sich Vidláková. Die Kohlerationen seien so gering gewesen, dass man beim Kochen und heizen hätte sparen müssen – kuschelig warm sei es dort nie gewesen. "Meine Mutti war streng und bestand darauf, dass ich mich jeden Tag wasche – im unbeheizten Badezimmer mit eiskaltem Wasser", erzählt Michaela Vidláková und ergänzt, dass sie heutzutage immer noch Gänsehaut bekäme, wenn sie an die kalte Dusche denke. "Ich mag immer noch kein kaltes Wasser", gesteht sie.

Michaela Vidláková mit vier oder fünf Jahren.

Nur ein einziges Mal sei sie in dieser Wohnung froh gewesen: An einem Abend im Dezember 1942, kurz vor ihrem sechsten Geburtstag. Georg und Irma Lauscher brauchten Zeit und Ruhe, um das Gepäck für den Transport nach Theresienstadt zu packen. Und so holte Georg Lauscher einen Bleistift und erlaubte seiner Tochter, damit die Wände zu bemalen. "Ich durfte zum ersten und letzten Mal im Leben eine Wand bemalen. Das war für mich ein großes Erlebnis und ein Abschied."

Am 20. Dezember 1942 macht sich die Familie auf den Weg nach Theresienstadt – erst geht es zu einer Sammelstelle, dann folgt eine Zugfahrt und am Ende noch ein Fußmarsch bis zur alten Festungsanlage. Da Georg und Irma Lauscher nicht wissen, ob sie als Familie zusammenbleiben können, statten sie ihre Tochter mit allem aus, was sie in der Not brauchen könnte, um selbstständig zu sein. Aber weil Michaela immer noch ein Kind ist, darf sie auch ein paar nicht überlebensnotwendige Dinge mitnehmen: Das Buch "Bambi", Stifte und einen Zeichenblock sowie ihre Marionette namens "Pluto". Die hatte Georg Lauscher aus Holzresten selbst gedrechselt und gebaut und seiner Tochter zum fünften Geburtstag geschenkt. "Und vielleicht war gerade dieses Spielzeug eine der Sachen, die unserer Leben entschieden haben", überlegt Michaela Vidláková laut.

Michaela Vidlákovás Spielzeughund Pluto

Denn eigentlich hätten sie zusammen mit den anderen Menschen aus ihrem Transport gleich weiter Richtung Osten geschickt werden sollen. "Dass dort im Osten Vernichtungslager sind, die darauf vorbereitet sind, manchmal gleich den gesamten Transport sofort zu töten – das hat damals keiner gewusst", erklärt sie. Als ihr Vater auf die Frage, welchen Beruf er habe, mit "Handwerker" antwortet und als Beweis den Spielzeughund vorzeigt, soll er in Theresienstadt bleiben. Denn Theresienstadt war nicht nur ein Sammel- und Durchgangslager, sondern auch ein Arbeitslager, in dem gerade Zimmermänner besonders gebraucht wurden. "Und weil der jüdische Ältestenrat Familien zusammenlassen wollte, durften auch Mutti und ich dort bleiben."

In Theresienstadt wird die Familie getrennt, die sechsjährige Michaela kommt ins Kinderheim – für sie ist es das erste Mal, dass sie von ihren Eltern getrennt wird. "Im ersten Augenblick hatte ich Angst und war einsam. Aber die Kinder haben mich sofort umkreist - und ich hatte so lange Kindergesellschaft vermisst. Jetzt hatte ich hier wieder Kinder um mich und da bin ich aufgetaut", erinnert sich die 83-Jährige lächelnd. In den Gesichtern der Schülerinnen kann sie das Entsetzen sehen, das sie bei dem Gedanken überfällt, kleine Kinder von ihren Eltern zu trennen. "Ich weiß, dass es grausam klingt, aber eigentlich war es das Beste, was der Ältestenrat für uns tun konnte." Aus ihrer Sicht sei es besser gewesen, unter Kindern untergebracht zu sein.

Leicht sei es trotzdem nicht gewesen. "Wir haben zwar nicht gefroren, aber es war uns im Winter nie wirklich warm. Wir haben nicht gehungert, weil der Ältestenrat uns etwas größere Rationen zugeteilt hat, aber wir waren auch nie wirklich satt", beschreibt Michaela Vidláková. Die Betreuerinnen versuchten, die ihnen anvertrauten Kinder von all dem Leid abzulenken: Sie lasen ihnen Märchen vor, brachten ihnen Gedichte bei, ließen die Kinder zeichnen, singen oder Theater spielen. Heimlich gaben sie ihnen auch - so wie es unter den primitiven Bedingungen ging - Schulunterricht. "Und wenn das Wetter nicht schlecht war, sind wir in der Stadt spazieren gegangen", so Vidláková. Die Kinder improvisieren, wo sie nur können, um ein wenig Spaß zu haben. Bei Regen bauen sie aus Papier kleine Boote, die sie im strömenden Wasser um die Wette fahren lassen. "Und einmal hat mein Papa für uns sogar aus einer Margarinekiste einen Schlitten gebaut."

Dem Tod von der Schippe gesprungen

Tod und Krankheit lauern überall in Theresienstadt und auch Michaela Vidláková wird bald krank. Die Diagnose: Typhus, Scharlach und Masern auf einmal. Und keine Medikamente, um das kranke Kind zu behandeln. Nur kalte Umschläge, um das Fieber zu lindern. Wenig später kommen noch Gelbsucht und eine Herzmuskelentzündung hinzu. "Ungefähr ein Jahr musste ich im Krankenhaus bleiben. Meine Mutti und meinen Vati durfte ich wegen der Ansteckungsgefahr nur vom Fenster aus sehen und alle Briefe, die ich ihnen schrieb, musste die Krankenschwester erst bügeln – um mögliche Keime abzutöten."

In dieser Zeit lernt Michaela Vidláková einen deutschen Waisenjungen kennen, der mit ihr im Krankenhaus liegt. "Er sprach kein Tschechisch und ich kein Deutsch", erinnert sie sich, "aber irgendwie haben wir einander die Sprache des anderen beigebracht. Ich hatte mir schon immer einen Bruder gewünscht und wollte, dass meine Eltern ihn adoptieren. Ich hatte ihn sehr liebgewonnen."

Kurz nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus 1944 erwartete man in Theresienstadt die Internationale Kommission des Roten Kreuzes. Damit die Besucher das wahre Elend der Menschen nicht zu Gesicht bekamen, wurden Häuser gestrichen, Straßen und Gehwege geputzt und die Fenster mit Gardinen ausgestattet, damit man nicht sehen konnte, wie man in Wirklichkeit in Theresienstadt lebte. Alte, kranke oder schlechtaussehende Menschen wurden vorher in die Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Nichts sollte den schönen Schein trüben. "Zu den Deportierten gehörten auch Kinder, mit denen ich im Krankenhaus gelegen habe. Und einer von ihnen war der Junge, der mein kleiner Bruder hätte werden sollen", erzählt Vidláková. Nach dem Krieg waren ihre Eltern bereit, ihn zu adoptieren und suchten nach dem kleinen Jungen. Sie konnten nur ahnen, welches Schicksal ihn ereilt hatte. "Wenn ein kleines Kind deportiert wurde, dann ging es direkt in die Gaskammer. Das Einzige, was mir von ihm geblieben ist, sind meine Kenntnisse der deutschen Sprache. Denn selbst seinen Namen habe ich mittlerweile vergessen", erzählt Vidláková traurig.

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Nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus darf sie bei ihrer Mutter wohnen. Zu den Aufgaben der mittlerweile Siebenjährigen gehört es, das Essen mittags zu holen. "Zu der Schlange kamen sehr oft alte Menschen – die haben wirklich gehungert. Aus Verzweiflung haben sie selbst in Abfällen nach etwas zu essen gesucht", erinnert sich die alte Dame. Ganz bescheiden, zurückhaltend, hätten die Menschen gefragt, ob sie nicht ihre Suppe haben könnten. Dem jungen Mädchen zerreißt es das Herz. Denn selbstverständlich hätte sie ihre Suppe auch gern selbst gegessen, aber die traurigen Blicke der armen, alten Menschen hätten sie an ihre eigenen Großeltern erinnert: "Ich dachte damals noch, dass sie irgendwo in Polen leben – ich wusste nicht, dass man sie schon längst in den Gaskammern von Auschwitz ermordet hatte – und so dachte ich mir: ‘Wenn ich diesen Menschen helfe, dann wird vielleicht auch jemand meinen Großeltern in Polen etwas zu essen geben.‘"

Michaela Vidláková beschreibt die Entscheidung, wessen Leben sie mit ihrer Suppe ein kleines bisschen verlängern sollte, als quälend und schmerzhaft. "Ich habe mich so machtlos gefühlt", gesteht sie.  Die Enttäuschung in den Augen der Menschen zu sehen, die die Suppe nicht bekamen, sei damals das Schwierigste gewesen, was sie in Theresienstadt erlebt habe. Schließlich habe sie, als geliebte Menschen wie ihre Großeltern in die Transporte gen Osten getrieben wurden, noch die Hoffnung auf ein Wiedersehen nach dem Krieg gehabt – niemand habe von dem Massenmord gewusst. "Ich glaube, ich erinnere mich viel mehr an das Leiden der anderen als an mein Eigenes", überlegt sie.

Moral in Theresienstadt

Während einer ihrer Streifzüge sieht das Mädchen, wie beim Ausladen eines Wagens eine dicke Kartoffel zur Seite rollt: Sie geht unauffällig hin, stößt die Kartoffel weiter vor sich her, so als sei sie ein Stein, und kniet sich schließlich in sicherer Entfernung hin, um so zu tun, als würde sie sich den Schuh zubinden. Dabei schiebt sie die Kartoffel unter den Bund ihrer Hose und läuft nach Hause – stolz darauf, an diesem Tag etwas zum Überleben der Familie beitragen zu können. "Mein Vati war so enttäuscht von mir. Er hat mich angeschaut und gesagt: ‘Das wäre das Mittagessen für drei oder vier Menschen. Wie kommt es, dass du stiehlst? In den zehn Geboten steht doch, du sollst nicht stehlen‘", erinnert sich Michaela Vidláková an die Standpauke ihres Vaters. Denn in Theresienstadt habe man Dinge "organisieren", aber nicht von den Kameraden stehlen dürfen. Weil es jedoch zu gefährlich ist, die Kartoffel zurück zu bringen, schneidet Irma Lauscher sie in ganz dünne Scheiben und backt sie auf dem Ofen. "Das waren die ersten Kartoffelchips, die ich in meinem Leben gegessen habe", so Vidláková. Sie hätten ihr sehr gut geschmeckt, doch gleichzeitig habe sie wegen der Worte ihres Vaters ein schlechtes Gewissen dabei gehabt.

Ende Oktober 1944 haben bereits 62 Transporte Theresienstadt verlassen – die Hälfte von ihnen mit dem Ziel Auschwitz-Birkenau. Da bekommt auch Michaelas Vater Georg Lauscher den Deportationsbefehl für den 63. Transport. Den Frauen und Kindern der zur Deportation vorgesehenen Männer "erlauben" die Nationalsozialisten, sich freiwillig für den Transport zu melden. Irma Lauscher will sich ihrem Mann anschließen, doch der verbietet es ihr: Zu oft sei man schon von den Nationalsozialisten belogen und betrogen worden. Sie solle mit der gerade genesenen Michaela besser in Theresienstadt bleiben. Aus zusammengesuchten Wollresten strickt Irma Lauscher in der Nacht vor der Abfahrt des Zuges eine lange Unterhose für ihren Mann – gegen die kalten Winter in Polen.

Über Nacht strickt Irma Lauscher für ihren Mann Georg in Theresienstadt aus Wollresten eine lange Unterhose.

Zur selben Zeit deckt jedoch ein heftiger Sturm das Dach einer Barack ab, in der kriegswichtige Materialien lagern. Der einzige verbliebene Vorarbeiter bekommt die Erlaubnis, sich drei Männer aus dem Transport auszusuchen, die ihm bei der Reparatur helfen. "Und die anderen haben meinen Vati ausgelacht, weil er sich freiwillig gemeldet hat, bei diesem schlechten Wetter zu arbeiten", erinnert sich Vidláková. Doch Georg Lauscher will den Kollegen, dem bei Nicht-Reparatur des Daches schlimmste Strafen drohen, nicht im Stich lassen. Und so überzeugt er noch zwei weitere Männer, sich für die Arbeit zu melden. "Und während sie das Dach reparierten, verließ der letzte Zug nach Auschwitz die Gleise von Theresienstadt."

Auch das Kriegsende im Mai 1945 in Theresienstadt geht nicht spurlos an Michaela Vidláková vorüber. Heute sagt sie: "Nie werde ich den Anblick dieser Trümmer von Menschen vergessen, die im April von den Todesmärschen und den Todestransporten nach Theresienstadt kamen. Diese Menschen in den gestreiften Fetzen mit geschorenem Kopf, großen Augen und nur Haut und Knochen. Das war ein furchtbarer Anblick für ein achtjähriges Kind." Als ihr Vater seinen Bruder unter den Zurückgekehrten habe suchen wollen, sei sie in Tränen ausgebrochen und habe "ich will nicht, ich will nicht" geschluchzt. Georg Lauscher konnte die Reaktion seiner Tochter nicht verstehen, sie hatte den Onkel doch immer gerngehabt. "Aber ich will nicht, dass der Onkel so furchtbar aussieht", erklärte das Mädchen dem Papa.

Michaela Vidláková kurz nach dem Krieg.

Seit Beginn der 60er Jahre sei es für ihre Eltern selbstverständlich gewesen, sich an der Erinnerungsarbeit zu beteiligen - in den Sommerlagern der "Aktion Sühnezeichen". "Sie haben es als ihre Lebensaufgabe angesehen, darüber zu sprechen und daran zu erinnern. Denn schon im Lager hieß es: Der, der überlebt, ist verpflichtet, darüber Zeugnis abzulegen", erklärt Michaela Vidláková. Für sie selbst sei damals der Zeitpunkt noch nicht reif gewesen. "Ich wollte kein Deutsch sprechen, wollte keinen Kontakt zu Deutschen haben. Für mich war jeder Deutsche ein Feind", so Vidláková. Es sei ihr auch irgendwann zu viel geworden, dass ihre Eltern nur zwei Gesprächsthemen kannten: ihren Enkelsohn und Theresienstadt. Erst mit der Zeit und nach langen Gesprächen mit ihren Eltern und Lothar Kreyssig, dem Gründer von "Aktion Sühnezeichen", habe sie sich der neuen Generation gegenüber öffnen können. "Mit der neuen Generation konnte ich reden, denn die hatten natürlich keine Schuld für die Vergangenheit. Die Alten aber waren für mich immer verdächtig", rekapituliert Vidláková.

Michaela Vidláková erzählt vor Schülerinnen des St.-Ursula-Mädchengymnasiums in Freiburg ihre Lebensgeschichte.

Seit mehr als einem Vierteljahrhundert reist Michaela Vidláková mittlerweile als Zeitzeugin durch die Lande. Ein Lebensabend ohne Verpflichtung und ohne regelmäßig von den Gräueltaten der Nationalsozialisten zu erzählen – für die 83-jährige undenkbar. "Natürlich tut es mir weh, wenn ich mir vorstelle, wie meine Oma mit ihren weit über 60 Jahren den Weg zur Gaskammer gegangen ist. Aber ich versuche, mich ein wenig von diesen Gedanken zu entfernen und eben weiterzureden, weil es meine Pflicht ist. Wer kann erzählen, wenn nicht die, die dabei waren, die es betroffen hat? Ich habe das Glück, diesem Schicksal entkommen zu sein, aber viele Mitglieder meiner Familie nicht."

Michaela Vidláková bei ihrem Vortrag im Freiburger St.-Ursula-Mädchengymnasium.

Für sie sei es eine Belohnung, wenn die Kinder und Jugendlichen so interessiert zuhörten wie die Schülerinnen des St.-Ursula-Mädchengymnasiums an diesem Tag. Das Interesse bereite ihr Freude. "Ich erzähle ja nicht nur, um zu erinnern, um Vorwürfe zu machen oder um Mitleid hervorzurufen. Nein. Das wichtige ist, dass sich jeder bewusst wird, dass man gegen das Böse kämpfen muss, solange es noch schwach ist. Und damit kann jeder an seiner Stelle anfangen. Und deswegen erzähle ich – auch wenn es mir wehtut."

Das Maximilian-Kolbe-Werk unterstützt ehemalige Häftlinge nationalsozialistischer Konzentrationslager und Ghettos in Polen und anderen Ländern Mittel- und Osteuropas. Um die Arbeit zu unterstützen, können Sie entweder online spenden oder das Geld auf folgendes Konto überweisen:
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