Sonntagvormittag, irgendein Gottesdienst in Baden: Von links und hinten ist Gebrummel zu hören, rechts starren zwei Paare ohne Mundbewegung auf den Liedtext, einzig in den vordersten Reihen ertönt noch heller, klarer Gesang. Baden, das Land der Nicht-Singer und Nuschler möchte man bei sich scherzen.
Nur, dass die Situation ziemlich traurig ist, sagt Kirchenmusiker und Hochschullehrer Carsten Klomp. "Seit Jahrzehnten wird in Familien, Kitas und Schulen weniger gesungen, immer weniger Menschen haben eine trainierte Stimme", beobachtet der Leiter des Hauses der Kirchenmusik der Evangelischen Landeskirche in Baden mit Sitz in Heidelberg. In der Folge kennen die Menschen immer weniger Lieder. Und vor allem neigen die selten Singenden dazu tiefer zu singen, weil es einfacher ist. "Singen ist ein muskulärer Prozess. Die meisten Menschen könnten mit ein wenig Training weitaus höher singen", erklärt Klomp. So aber bliebe es bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen noch gesungen wird, bei einem Gebrummel, Genuschel oder die Menschen schweigen ganz.
Ähnliches beobachtet auch die Ettlinger Bezirkskantorin Anke Nickisch. "Der Trend geht dahin, dass ein paar kräftig mitsingen", sagt Nickisch. Die anderen trauen sich nicht oder es ist ihnen zu persönlich. Sie hat in den vergangenen vier Jahren für die Evangelische Landeskirche in Baden vereinzelt "Singanleitungsschulungen" gegeben. Dabei werden Personen in einem eintägigen Seminar dafür ausgebildet, sich vor eine Gruppe zu stellen und die Menschen zum Singen zu animieren. "Es geht beispielsweise darum, einen Ton anzustimmen oder einen Kanon anzuleiten", erklärt Nickisch. Dies sei gerade hilfreich in kleineren, abgelegenen Gemeinden, in denen es nicht immer eine musikalische Begleitung gebe.
Lieder werden tiefer notiert
Dabei kommen die Kirchenmusiker den Menschen schon entgegen. Beispielsweise das Kirchenlied "Macht hoch die Tür" steht im Evangelischen Kirchengesangbuch aus den 50er-Jahren noch in F-Dur, in dem in den 90er-Jahren erschienenen Evangelischen Gesangbuch ist es einen Ton runtergesetzt worden, in Es-Dur. "Im 2013 veröffentlichten katholischen Gotteslob sind einige Lieder sogar noch einen Ton tiefer gesetzt worden", sagt Klomp.
Ob das richtig ist, da scheiden sich die Geister. "Die Lieder wurden tiefer notiert, weil man sagt, man muss doch die Leute zum Singen animieren, ihnen eine Chance geben", sagt Klomp. Das habe auch seine Berechtigung. Aber: "Ich frage mich, wo diese Entwicklung enden soll", betont Klomp, der 17 Jahre als Landeskantor in Freiburg arbeitete. Ihm sei es nicht egal, wenn immer mehr Originalmelodien verschwinden. "Das ist ein großer Kulturverlust, sehr bedauerlich."
Als Ursachen für diese Entwicklung sieht er verschiedene Faktoren: Zum einen gelte Singen seit der 68-er Bewegung als Einfallstor für Ideologien. "Damals begann das Singen aus der Pädagogik zu verschwinden", berichtet er. Hinzu käme das Aufkommen von "leichter Kindermusik". "Die Lieder von Rolf Zuckowski beispielsweise kann man schön brüllen, aber singen im klassischen Sinne ist das nicht." G8, Musiklehrermangel und die stark reduzierte Musikausbildung pädagogischer Berufe entfernten Kinder und Jugendliche noch weiter von den traditionellen Liedern.
Um das Singen zu fördern, hat die Evangelische Landeskirche in Baden erstmals die Stelle eines Landessingwartes eingerichtet. Der Kirchenmusiker Achim Plagge wird sich ab Januar um alle landeskirchlichen Belange des Singens, aber insbesondere um das Musizieren im Gottesdienst kümmern.
Der württembergische Landeskirchenmusikdirektor Matthias Hanke sieht die Lage positiver: "Es gab einen Tiefpunkt, aber den haben wir schon überschritten", so der Leiter des Amtes für Kirchenmusik der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Er erinnert beispielsweise an das in Baden und Württemberg aufgeführte Mitmach-Chor-Musical "Luther", bei dem sich zahlreiche Menschen engagierten. "Es gibt viel Begeisterung für das Singen, wir müssen nur Angebote schaffen."