Herr Bareis, was hat sich 1994 verändert für die Posaunenarbeit?
Rolf Bareis: Mit der Neugründung des Evangelischen Posaunendienstes in Deutschland (EPiD) 1994 ist ein ungemein breit gespanntes evangelisches Dach entstanden. Darunter treffen sich jetzt alle, die Posaunenarbeit machen: Die landeskirchlich orientierten Posaunenwerke, aber auch freikirchliche Gruppierungen, Herrnhuter, Reformierte, die Selbstständige Evangelisch-lutherische Kirche (SELKD), der CVJM und die Sieben-Tags-Adventisten. Das sind auch Gruppierungen und Kirchen, die offiziell gar keine Abendmahls- oder Kirchengemeinschaft miteinander haben. Man trifft sich im Zentrum, beim Lob Gottes.
Kriegt das die Basis auch mit?
Bareis: Die Qualität der Arbeit ist in den letzten Jahren unglaublich gestiegen, und das haben die Bläserinnen und Bläser natürlich bemerkt. Die immer bessere Zusammenarbeit der Landesposaunenwarte, die breitere Vernetzung, war da sehr befruchtend in die einzelnen Mitgliedsverbände hinein. Vor 15 bis 20 Jahren setzte auch ein Paradigmenwechsel ein: Waren es früher hauptsächlich ambitionierte Diakone, die die Bläser anleiteten – in Ostdeutschland gab es auch die Berufskombination aus Kirchenmusiker und Diakon - so fanden nun immer mehr studierte Bläser den Weg in die Posaunenchöre oder wurden Posaunenwarte. Bei unserem ersten Deutschen Posaunentag 2008 in Leipzig gab es einen großen Ruck. Da haben alle gemerkt: wir gehören zusammen.
Wie grenzt sich die Arbeit des EPiD von den Mitgliedsverbänden ab?
Bareis: Der Dachverband agiert auf einer anderen Ebene. Er versucht, die Werke und Verbände zu vernetzen und ist zentraler Ansprechpartner für die EKD oder den Kirchentag. Die Posaunenarbeit ist ja von der Geschichte her ziemlich eigenständig. Sie ist aus der Inneren Mission, der Diakonie und der Jungmänner-Arbeit entstanden und hatte zunächst wenig mit der „klassischen“ Kirchenmusik und den dort tätigen studierten Musikern zu tun. Das hat sich im Laufe der Zeit aber geändert - deswegen ist die Vertretung in anderen kirchlichen Musikgremien, etwa im ständigen Ausschuss Kirchenmusik, dem liturgischen Ausschuss oder der Direktorenkonferenz, ebenfalls eine wichtige Aufgabe des EPiD. Außerdem bringen wir regelmäßig Noten heraus, etwa das Posaunenchor-Choralbuch oder Ergänzungsbände für die Gesangbücher. Jedes Jahr erscheint ein Andachtsbuch und ein Kalender – Dinge, die für alle da sind.
Wie sieht es mit den Kontakten zur weltlichen Musikszene aus?
Bareis: Die Posaunenarbeit wurde Mitglied im Bundesmusikverband Chor und Orchester, dem großen Amateurmusikverband in Deutschland. Ich bin dort im Präsidium, zudem vertrete ich im Präsidium des Deutschen Musikrates die instrumentale Amateurmusik – wir verlassen also auch den kirchlichen Boden. Beim Deutschen Orchesterwettbewerb und beim Amateurensemble-Wettbewerb gibt es inzwischen eigene Sparten für Posaunenchöre. Das wäre vor 20 Jahren noch undenkbar gewesen und ist auch ein Effekt des Zusammenschlusses. Seit 2016 ist der Posaunenchor immaterielles Kulturerbe Deutschlands – auch das spricht für die außerkirchliche Wahrnehmung der Posaunenarbeit.
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Welche Rolle spielt die theologische Ausrichtung der Mitgliedsverbände (lutherisch, reformiert, freikirchlich) heute noch?
Bareis: In der Zusammenarbeit gab es von Anfang an große Eintracht. Das Verbindende war stärker als das Trennende. Wenn es Grenzen gibt bei einzelnen Mitgliedern, dann werden die von den anderen akzeptiert. Die musikalischen Besonderheiten werden als Bereicherung wahrgenommen. Die freikirchlichen Verbände oder die Reformierten beziehen etwa stärker andere Instrumente mit ein, musizieren mit Bands, Chören oder Streichern zusammen – auch aus dem praktischen Grund, weil es dort eben weniger Bläser gibt. Solche Kooperationen und Cross-Over-Geschichten sind natürlich für alle interessant. So eine innerkirchliche musikalische Vernetzung ist auch sehr befruchtend für die anderen.
Es gibt also auch Unterschiede in der Literatur?
Bareis: Ja natürlich. Die Herrnhuter haben ein ganz eigenes Choralbuch, bei den Reformierten gibt es den Genfer Psalter, der neu vertont wurde, zum Teil auch in rockig-poppigem Stil. Das sind Besonderheiten, die von den anderen jetzt auch bewusst wahrgenommen werden.
"Das ist schon beachtlich, wenn drei oder vier Generationen zusammen Musik machen"
Im Gegensatz zu Kirchenchören und Kantoreien haben Posaunenchöre wenig Nachwuchssorgen. Was ist das Erfolgsgeheimnis?
Bareis: Es gibt zurzeit etwa 105.000 Musikerinnen und Musiker in 6.000 Posaunenchören. Die Zahlen sind schon auch zurückgegangen. Dem setzen wir aber eine Ausbildungsoffensive entgegen. Diese Ausbildung findet inzwischen auf einem sehr hohen musikalischen Niveau statt. Wir richten unser Augenmerk aber auch auf Ältere - Anfänger und Wiedereinsteiger. Im Posaunenchor kann man auch ziemlich lang noch mitmachen, länger als in einem Kirchenchor, weil die Stimme eher nachlässt als der Atem. Wir haben über 90-Jährige, die immer noch mitspielen. Das ist schon beachtlich, wenn drei oder vier Generationen zusammen Musik machen. Trotzdem haben auch wir mit demografischem und gesellschaftlichem Wandel zu kämpfen. Nachwuchsgewinnung und Bindung wird schwieriger.
Die Ausbildung in den Posaunenchören ruhte ja lange auf ehrenamtlichen Schultern. Ist das noch immer so?
Bareis: So ist es noch immer ganz häufig. Inzwischen gibt es aber auch Kooperationen mit Profimusikern oder Musikschulen. Manche Chöre gründen sogar eigene Bläser-Musikschulen. Da gibt es ganz viel Neues – auch Blechbläserklassen an Schulen etwa, die vom Posaunenchor mit organisiert werden. Das ist ein buntes Bild von Ideen und Möglichkeiten, die man ausprobiert und auch miteinander teilt, um anderen Impulse zu geben. Auch da ist die Vernetzung wieder eine tolle Sache.
"Die Gemeinschaft ist eigentlich das Wichtigste"
Können Sie noch ein bisschen mehr zur Zusammenarbeit mit Schulen sagen?
Bareis: Wir sind teilweise in der Ganztagsbetreuung mit drin. Ich selbst betreue gerade so ein Projekt, unterstützt mit Fördermitteln des Bundes. Das läuft über Programme wie „Musik für alle“ oder „Kultur macht stark“. Während der Unterrichtsstunden haben unsere Ehrenamtlichen in der Regel keine Zeit. Ich muss also einen Profimusiker anstellen. Da hilft dann eine Förderung, sei es durch einen privaten Freundeskreis oder eben staatliche Programme. Das hat natürlich auch zur Folge, dass die Ausbildung professioneller wird.
Damit erhöhen Sie aber doch auch die Hürden?
Bareis: Nein, eigentlich ist das Gegenteil der Fall. Niederschwelliger als ein kostenloses Unterrichtsangebot an der Schule geht es eigentlich nicht mehr. Wir versuchen immer einen Spagat zwischen Professionalisierung und der Möglichkeit für jeden, bei uns mitzumachen. Die Gemeinschaft ist eigentlich das Wichtigste - das zeigen auch Umfragen. Die wirkt nach außen, beim Musizieren im Gottesdienst, und nach innen, indem der Einzelne mitgenommen wird und in die Kirche hineinwächst. An Musikschulen gibt es zunächst einmal Einzelunterricht und dann irgendwann vielleicht die Möglichkeit, in einem Ensemble zu spielen. Bei uns ist es häufig andersherum: Wir fangen in der Gemeinschaft, im Ensemble an, lernen dort auch voneinander, und fördern nachher den Einzelnen auch speziell. Im Zentrum steht aber immer der Gruppenunterricht.
"Die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen ist vor allem für die Älteren eine Herausforderung"
Gibt es auch Berührungspunkte mit Blaskapellen und Musikvereinen?
Bareis: Das ist schwierig, weil wir in unterschiedlichen Griffweisen und Stimmungen spielen. Unser „Posaunengeneral“ Johannes Kuhlo hat das seinerzeit wohl bewusst so festgelegt, auch um sich abzugrenzen – das fällt uns jetzt ein bisschen vor die Füße. Die neuere Literatur erscheint inzwischen aber auch in B, so dass Leute aus Musikschulen oder Vereinen, die wollen, bei uns mitmachen können. Richtige Kooperationen gibt es nach wie vor aber nur wenige, weil man vor Ort ja auch um die Bläserinnen und Bläser konkurriert. Auf der Ebene des Dachverbands haben wir sehr guten Kontakt zum Bund Deutscher Blasmusikverbände und auch schon darüber nachgedacht, wie wir bei der Ausbildung stärker kooperieren könnten.
Bei der Bläserliteratur hat sich ja in den letzten Jahren viel getan, es gibt neue Stücke in Pop- und Jazzstilen. Wie ist da der Trend, und denken Sie auch über neue Veranstaltungsformate nach?
Bareis: Es ist glaube ich eine unserer Stärken, dass wir stilistisch breit aufgestellt sind. Das funktioniert auch durch die Generationen. Wir haben ja nicht, wie bei den Chören, die Unterteilung in Kinder-, Jugend-, Gospelchor und Kantorei, sondern alle spielen zusammen und auch alle Arten von Literatur. Die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen ist vor allem für die Älteren eine Herausforderung. Aber es ist auch sehr gemeinschaftsstiftend und fördernd, wenn der Opa mit dem Enkel eine Filmmusik oder etwas Rockiges spielt. Dann ist der Enkel auch eher geneigt, mal ein Volkslied oder einen Choral mit dem Opa zusammen zu spielen. Wir haben erfreulich viele gute Komponisten in unseren eigenen Reihen, die neue Stücke schreiben. Jetzt beim Kirchentag, bei unserer Jubiläumsserenade, hatten wir allein drei Uraufführungen. Was der große Chor mit über 2.000 Leuten da abgeliefert hat, präzise und auf den Punkt, das war schon toll. Solche Formate, bei denen wir unsere Qualitäten einem großen Publikum präsentieren, gibt es immer häufiger. Aber auch das neue Liedgut wird zu einem Großteil von den Posaunenchören in die Gemeinden getragen. Da spielen sie eine wichtige Rolle als Vermittler.
"Zusammenspielen, wo es möglich ist – das ist eine große Chance"
Neue Klänge gibt es also nicht nur auf großer Bühne, sondern auch im Gemeindegottesdienst?
Bareis: Ja. In unseren jährlichen Veröffentlichungen gibt es auch immer eine Mischung aus Alt und Neu, choralgebundenen und freien Stücken. Das jüngste Heft „Alles was Odem hat“ kombiniert Posaunen- und Kirchenchor. Eine Anregung zum gemeinsamen Musizieren, in Gottesdienst und Konzert.
Das zählt auch zu den neuen Trends, unterschiedliche Gruppen zu kombinieren?
Bareis: Ja, das ist ein neuer Ansatz. Eine Annäherung zwischen den Sparten der Kirchenmusik. Für Orgel und Posaunenchor haben wir auch etwas Neues in Planung. Zusammenspielen, wo es möglich ist – das ist eine große Chance.
Auf welche Veranstaltungen und Ereignisse bereiten Sie sich als nächstes vor?
Bareis: Der nächste Deutsche Posaunentag ist 2024. Da beginnen jetzt die Vorbereitungen. Bei der diesjährigen Hauptversammlung in Pforzheim haben wir uns für Hamburg als Veranstaltungsort entschieden. Beim letzten Posaunentag in Dresden waren es fast 23.000 Anmeldungen, in Hamburg werden es wohl noch etwas mehr. Das ist für uns schon eine ziemlich große logistische Leistung. Auch bei den Kirchentagen sind wir immer aktiv.
Woher rührt die enorme Bindekraft der Posaunenchöre, ist es das generationenübergreifende Element?
Bareis: Ich denke, es ist die Gemeinschaft, die wir miteinander haben. Da hat jeder Platz und kann mitmachen. Das ist auch unser grundsätzlicher Anspruch und etwas, das eine starke Bindekraft entfaltet. Das Zusammenspiel mehrerer Generationen ist toll. Ich merk das bei meinem eigenen Sohn, der immer wieder kommt und sagt: „Komm, Papa, spielen wir das mal zusammen“ – weil es ihm einfach Spaß macht. Auch dass man relativ schnell schon fit ist zum Mitspielen, zumindest bei einfachen Chorälen im Gottesdienst, ist eine Stärke der Posaunenarbeit. Dort einen „Dienst“ zu leisten – so ist auch das Verständnis der Bläserinnen und Bläser: Dass sie einen „Einsatz“ haben, wenn sie spielen, ähnlich wie Feuerwehr und Rotes Kreuz, nicht so sehr einen künstlerischen Auftritt. Und wenn einem der eigene Chor zu eng wird, gibt es die überregionalen Auswahlensembles.
Über den Horizont blicken kann man also auch…
Bareis: Genau. Gleichzeitig wird in den Auswahlensembles aber darauf geachtet, dass die Mitglieder auch weiterhin in ihrem Heimatchor mitmachen. Gerade unsere Leistungsträger sollen an der Basis unterstützen, Impulse geben und fördern. Das ist das Fantastische, dass Leute, die semiprofessionell oder gar professionell spielen, neben einem Anfänger sitzen und gemeinsam musizieren.