Die Politik ins Gebet nehmen

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Alexander Van Der Bellen (l), Bundespräsident von Österreich, spricht mit Sebastian Kurz, Bundeskanzler von Österreich, in der Präsidentschaftskanzlei.
Die Politik ins Gebet nehmen
Die Demokratie ist auf jeden Einzelnen angewiesen, auf sein Gewissen und sein Verantwortungsgefühl. Diese Lehre zieht der Wiener Theologe Ulrich Körtner aus der schwelenden Regierungskrise in Österreich. Politiker müssten ihren Beruf mit Sachverstand und zum Wohl der Allgemeinheit ausüben. Sie an ihren moralischen Kompass zu erinnern, sei auch Aufgabe der Kirchen.

Der österreichische Bundespräsident Alexander van der Bellen fand an Tag Zwei des Ibiza-Gate klare Worte, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließen. Er sprach von einem verstörenden und beschämenden Sittenbild, das die FPÖ-Politiker Heinz-Christian Strache und Johann Gudenus gezeigt hätten, aber auch von ihrer unerhörten Respektlosigkeit, die sie gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern Österreichs an den Tag gelegt hätten. Die Gesinnung, welche die beiden Politiker offenbart haben, zeugt in der Tat von einem zutiefst gestörten Verhältnis zur rechtsstaatlichen, liberalen Demokratie und zur Pressefreiheit, von autoritärer Machversessenheit und tiefer Verachtung gegenüber ihren politischen Gegnern, letztlich aber auch gegenüber ihren eigenen Wählern.

Autor:in
Ulrich Körtner
Ulrich Körtner

Ulrich Körtner, geb. 1957, lehrt als Professor für Systematische Theologie an der Universität Wien. Er ist Direktor des Instituts für öffentliche Theologie und Ethik der Diakonie sowie des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien.

Nicht minder verstörend ist es, dass der Nationalratsabgeordnete und frühere stellvertretende Nationalratspräsident Martin Graf am Tag Fünf der Krise erklärte: "Wer heute den Stab über unseren Heinz Christian Strache bricht, hat weder Ehre noch Treue und schon gar nicht politisches Gespür im Leib", und von einem "politischen Attentat auf die FPÖ" schwadronierte. Man muss sich gar nicht erst an den Wahlspruch der SS – "Unsere Ehre heißt Treue" – erinnert fühlen, um zu erkennen, dass hier die ohnehin schon verschlissenen Begriffe Ehre und Treue völlig korrumpiert werden. Ehre und Treue gegenüber Politikern, die eine korrupte und demokratiefeindliche Gesinnung an den Tag gelegt haben: Das ist die Perversion jeglicher politischer Moral.

Abgesehen davon, dass die FPÖ einmal mehr unter Beweis gestellt hat, nicht regierungsfähig zu sein, glauben sich all jene bestätigt, die immer schon der Überzeugung waren, dass Moral in der Politik nicht zu finden ist, dass alle Politiker korrupt sind und dass ihre Behauptung, dem Gemeinwohl dienen zu wollen, ein bloßes Lippenbekenntnis ist. Eben darum ist der demokratiepolitische Schaden so groß, den Strache und Gudenus angerichtet haben, ganz abgesehen davon, dass sie dem Ansehen Österreichs empfindlich geschadet haben.

Was wir derzeit erleben, ist gottlob noch keine Staatskrise, sehr wohl aber eine Krise der politischen Klasse, wie sie die Zweite Republik noch nicht erlebt hat. In ihr zeigt sich, dass Rechtsstaatlichkeit, eine unabhängige Justiz und Pressefreiheit eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung für eine funktionierende Demokratie sind. Ein wohlgeordnetes politisches Gemeinwesen ist auch auf die moralische Integrität derer angewiesen, welche die Politik zu ihrem Beruf machen. Auch wenn letztlich alle Bürger und Bürgerinnen politische Verantwortung tragen, kommt die moderne Demokratie nicht ohne Politiker aus, denen nicht nur auf Zeit Macht übertragen wird, sondern die Politik im Interesse der Allgemeinheit als Beruf ausüben und ihr Handwerk beherrschen.

Politik als Beruf ist freilich ohne ein entsprechendes Berufsethos ebenso wenig denkbar wie der Beruf des Arztes oder auch der Beruf des Unternehmers. Der Begriff des ehrbaren Kaufmanns mag altmodisch klingen. In der Finanz- und Bankenkrise 2008 hatte er plötzlich wieder Konjunktur. Genauso braucht es moralisch integre Politikerinnen und Politiker und nicht etwa nur Technokraten der Macht.

Es kommt auf den Einzelnen an

Der freiheitliche, säkularisierte Staat – so der deutsche Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde – lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Zu diesen Voraussetzungen gehören nicht nur die – durchaus pluralen –  weltanschaulichen, religiösen und sittlichen Überzeugungen seiner Bürger, sondern eben auch diejenigen seiner Berufspolitiker. So sehr eine Ethik des Politischen Gegenstand der Sozialethik ist, spielt doch auch die Individualethik in der Politik eine unverzichtbarer Rolle. In der repräsentativen Demokratie kommt es eben doch nicht nur auf Parteien, sondern auf den Einzelnen, sein Gewissen, seine Charakterfestigkeit, Souveränität und sein persönliches Verantwortungsgefühl an.

Eine Maxime, die sicher nicht nur, aber doch auch Politikern ans Herz zu legen ist, stammt aus dem Munde Jesu von Nazareth: "Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben" (Matthäus 10,16). Das sagt Jesus seinen Jüngern, die er – so seine Worte – wie Schafe unter die Wölfe sendet. Aufgabe der Politik ist es, für Frieden und Sicherheit unter den Menschen zu sorgen, für Gerechtigkeit anstelle des Rechtes des Stärkeren, das dann herrscht, wenn der Mensch dem Menschen zum Wolf wird. Im christlichen Sinne als Politiker zu agieren, heißt keineswegs, die Rolle des dummen Schafes zu spielen, das den Wölfen zum Fraß wird. Die empfohlene Klugheit der Schlangen ist aber nicht mit Verschlagenheit zu verwechseln, soll sie sich doch mit Aufrichtigkeit und Vertrauenswürdigkeit paaren.

Noch ein Wort zur Rolle der Kirchen, die sich in den politischen Turbulenzen bislang auffallend zurückgehalten haben. Gewiss sollen sie zur Schärfung der Gewissen, zur ethischen Urteilsbildung und zur Förderung eines politischen Berufsethos beitragen, ohne in die Rolle des Moralapostels zu verfallen, der wohlfeile Moralpredigten hält. Ihre ureigene Aufgabe ist es nach neutestamentlichem Zeugnis freilich, für die politisch Verantwortlichen zu beten. Wir können auch sagen: die Politiker ins Gebet zu nehmen. Wenn das nicht nur in frömmelndem Ton, sondern ganz konkret geschieht, die Nöte der Menschen und politische Herausforderungen beim Namen nennend, ist solches Gebet – zumal wenn es öffentlich im Gottesdienst geschieht – gleichermaßen ein religiöser wie ein politischer Akt.