Warum wir dankbar sein dürfen, dass es Karl Barth gegeben hat

Portrait des Theologen Karl Barth
Foto: Karl Schnoerr/picture alliance
Der Schweizer Theologe Karl Barth im Jahr 1957.
Warum wir dankbar sein dürfen, dass es Karl Barth gegeben hat
"In einer Zeit, in der vielen Menschen nicht nur die christliche Antwort auf die sogenannte Gottesfrage zweifelhaft erscheint, sondern sogar die Frage als solche abhanden gekommen ist, gewinnt die Theologie Barths neu an Aktualität", schreibt der Theologe Ulrich Körtner. Und das sind die Hintergründe des Plädoyers für mehr Karl Barth.

Als ich 1975 mein Theologiestudium begann, war der Einfluss Karl Barths und seiner Schüler noch ungebrochen, auch wenn sich bereits neue Denkrichtungen an den theologischen Fakultäten formierten. In Göttingen hörte ich Dogmatikvorlesungen bei Hans-Joachim Kraus (1918–2000), der als "Linksbarthianer" galt und von 1982 bis 1990 Moderator des Reformierten Bundes war.

Autor:in
Ulrich Körtner
Ulrich Körtner

Ulrich Körtner, geb. 1957, lehrt als Professor für Systematische Theologie an der Universität Wien. Er ist Direktor des Instituts für öffentliche Theologie und Ethik der Diakonie sowie des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien.

Die ersten Bücher Barths, die ich mir während des Studiums zulegte, waren die zweite Auflage seines "Römerbriefs" (1922) und seine Vortragssammlung "Theologische Fragen und Antworten", die den berühmten Briefwechsel zwischen Barth und seinem Lehrer Adolf von Harnack (1851–1930) über die Dialektische Theologie und ihre möglichen Folgen für die Stellung der Theologie im Haus der Wissenschaften enthält. Während Barth erklärte, die Aufgabe der Theologie falle mit derjenigen der Predigt zusammen, witterte Harnack als Doyen liberaler, kulturprotestantischer Theologie die Gefahr einer "theologischen Diktatur".

Dieser Vorwurf gegen Barth ist auch heute oft zu hören, zumal die Wort-Gottes-Theologie in der deutschsprachigen Theologie vielerorts eine schlechte Presse hat. Nicht Gott, Selbstoffenbarung Gottes und Wort Gottes sind gegenwärtig die dominanten Leitbegriffe evangelischer Theologie, sondern gelebte Religion, Kultur und Transzendenz.

Vorherrschend ist heute eine Auffassung von Theologie als Kulturwissenschaft, die sich mit Religion als einer prägenden Gestalt von Kultur befasst. Ein solches Theologieverständnis scheint allemal anschlussfähiger gegenüber den gegenwärtigen Zeit- und Wissenschaftsströmungen zu sein als eine Theologie des Wortes Gottes, die sich nach Ansicht ihrer Kritiker in das Ghetto einer sterilen Barth-Orthodoxie hineinmanövriert hat.

Und doch bin ich überzeugt, dass wir Barths epochale Theologie nur zu unserem Schaden für erledigt halten können. Theologie, die sich als Kulturwissenschaft begreift, löst sich letztlich auf, weil sie den übrigen Wissenschaften und der Gesellschaft nichts Eigenes mehr zu sagen hat, was man nicht auch in Religionswissenschaft und sonstigen Kulturwissenschaften zu hören bekommt.

Die vielbeschworene Synthese von Christentum und Kultur ist spätestens mit der Kulturkatastrophe des Ersten Weltkriegs brüchig geworden. Der liberale Protestantismus, dessen Erneuerung manche Theologen lautstark verkünden, ist weltweit betrachtet ein Minderheitenprogramm, das sich an Schwundstufen des Religiösen klammert und so im Begriff ist, sich selbst aufzulösen.

In seinem Briefwechsel mit Adolf von Harnack hat Barth vor einer Zuschauertheologie gewarnt, die den christlichen Glauben und seine geschichtlichen Erscheinungsformen aus der sicheren Distanz wissenschaftlicher Beobachtung analysiere. Nun kennen zwar auch die Kulturwissenschaften die Methode der teilnehmenden Beobachtung, und zum Selbstverständnis heutiger Theologie gehört es durchaus, neben der Beobachterperspektive die Teilnehmerperspektive glaubender Menschen anzusprechen. Barth hat freilich mehr im Sinn. Für ihn steht und fällt die Möglichkeit aller Theologie mit der Erkenntnis, dass wir vor dem lebendigen Gott stehen und existentiell von ihm gefordert sind.

In Anbetracht der gegenwärtigen religiösen und kirchlichen Lage scheint mir der Satz Barths – eigentlich ein von ihm geniale missverstandener Satz Franz Overbecks (1837–1905) – neue Aktualität zu gewinnen, dass "anders als mit Verwegenheit […] eine Theologie nicht wieder zu gründen" ist. Theologie, so bleibt von Barth zu lernen, ist eine Form der engagierten Vernunft, die es wagt und wagen muss, von Gott zu reden, nicht etwa nur von Gottesvorstellungen und Gottesgedanken.

Wie Barth in seiner Abschiedsvorlesung 1968 erklärte, hat evangelische – und das heißt eine evangeliumsgemäße Theologie – die Aufgabe, "den Gott des Evangeliums, das heißt den im Evangelium sich kundgebenden, für sich selbst zu den Menschen redenden, unter und an ihnen handelnden Gott auf dem durch ihn selbst gewiesenen Weg wahrzunehmen, zu verstehen, zur Sprache zu bringen."

Dieser Gott ist der "Ganz Andere", der alle gängigen Gottesbilder zerbricht und den Menschen radikal infrage stellt, wie Barth in seinem "Römerbrief" schreibt. In einer Zeit, in der vielen Menschen nicht nur die christliche Antwort auf die sogenannte Gottesfrage zweifelhaft erscheint, sondern sogar die Frage als solche abhanden gekommen ist, gewinnt die Theologie Barths neu an Aktualität.

Nur wo sich dieser Gott uns selbst offenbart und zu erkennen gibt, wissen wir uns auf heilsame Weise vor ihn gestellt und von ihm gerichtet wie zugleich begnadigt. Barth nennt dieses Geschehen Wort Gottes, und dieses Wort hat für ihn einen Namen und Inhalt: "Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben." Ich füge hinzu: dem wir im Leben und im Sterben vertrauen dürfen.