"Ich komm einfach nicht dazu, diese Kisten auszupacken", sagt Rebecca Marquardt. Sie deutet auf mehrere Ecken in ihrem Arbeitszimmer. Vor einigen Monaten hat sie ihre erste Pfarrwohnung bezogen und ein paar Umzugskisten sind noch nicht ausgepackt. Auch die übrigen Zimmer ihrer neuen Wohnung sind noch nicht fertig eingerichtet. "Dafür fehlt mir gerade einfach die Zeit, ich arbeite fast jeden Tag, es gibt in meinem Job immer etwas zu tun", sagt die junge Pfarrerin. Theoretisch sei Montag ihr dienstfreier Tag in der Woche, doch meistens komme etwas dazwischen.
Wie die meisten Pfarrhäuser oder -wohnungen liegt auch die von Marquardt nah an ihrer Arbeitsstätte, direkt zwischen den beiden Kirchengebäuden der Evangelischen Kirchengemeinde Emmaus-Ölberg. Der Arbeitsweg ist schön kurz und die Wohnung gefällt ihr sehr gut. Manchmal hört sie Kinder lachen. Denn direkt unter ihrer Wohnung ist die Gemeindekita, in der Marquardt auch wirkt, beispielsweise wenn sie mit den Kleinen Kita-Gottesdienste feiert oder sich mit den Mitarbeiterinnen über religionspädagogische Angebote Gedanken macht.
Aufgaben wie diese hatte bisher eine der beiden Diakoninnen der Gemeinde übernommen. Die hat allerdings gerade für zwei Jahre eine Vertretungsstelle in einer anderen Gemeinde übernommen. Auch der Hausmeister sei gerade im Sabbatjahr und werde nur mit einer halben Stelle vertreten. "Vor einem Jahr, zu Beginn meiner Arbeit in dieser Gemeinde, hatte ich ein großes Team in meinem Rücken", sagt Marquardt. Dieses sei nun personell etwas reduziert. Eine Diakonin, eine Küsterin mit halber Stelle, die halbe Vertretungen für den Hausmeister und einen Kirchenmusiker habe sie aktuell noch zu ihrer Unterstützung. Dazu noch ein bis zwei kleinere Anstellungsverhältnisse und natürlich Ehrenamtliche. "Die machen alle einen tollen Job." Dennoch, Marquardt ist Berufsanfängerin und da machen solche Veränderungen gleich im ersten Jahr natürlich etwas aus.
"Zudem sind wir eine Veranstaltungskirche", erklärt Marquardt. Dies sei auch wunderbar. Der kulturelle Schwerpunkt bestehe in ihrer Gemeinde seit langer Zeit. Fast jedes Wochenende gebe es in den beiden Kirchengebäuden mindestens ein Konzert. Kleinere Lesungen, klassische Konzerte oder auch große Jazzfestivals, alles ist dabei. Um diesen Standard zu halten, müssten gerade alle an jeder Ecke ein bisschen mehr mitanpacken.
"Manche Leute denken vielleicht, eine Pfarrerin würde nur den Gottesdienst am Sonntag halten, aber das ist bei weitem nicht so", erläutert Marquardt, die circa 55 Stunden in der Woche arbeitet. Ungefähr 70 Prozent ihrer Arbeit bestehe dabei aus "Management-Tätigkeiten", wie sie es nennt. "Dazu gehören unter anderem die Teamführung, die Aufsicht über den Haushalt und die Baumaßnahmen, der Dialog mit Ämtern und Partnern und die Vorbereitung und Leitung von Gremiensitzungen. Das alles mache ich aber auch besonders gerne." Die Emmaus-Ölberg Gemeinde verfügt über Grundstücke und Gebäude, und die Pfarrerin ist auch verantwortlich für deren Verwaltung.
"Hier im Kiez ist gerade schon eine besondere Energie, vieles verändert sich. Menschen, die schon lange hier wohnen, vor allem auch die mit geringem oder mittlerem Einkommen, die es in der Gegend um den Görlitzer Park herum immer auch noch viele gibt, spüren, dass das angesagte Kreuzberg immer weiter aufsteigt und sowohl Touristen als auch wohlhabendere Menschen anzieht. Die Angst vor der 'Gentrifizierung' ist groß. Das zeigt sich aktuell auch in der sogenannten Aldi-Debatte in der Markthalle Neun. Die Bewohnerinnen und Bewohner, die am Erhalt der kleinen Supermarktfiliale festhalten, haben die Angst, dass immer mehr Menschen mit kleinem Einkommen aus ihrem Kiez verdrängt werden. Auch die Emmaus-Ölberg-Gemeinde, die sich gerade selbst mit der Frage beschäftigt, wie sozialer Wohnungsbau in Kreuzberg möglich gemacht werden kann, ist in Debatten wie diese involviert", sagt Marquardt, die es spannend findet, gleich in ihrem ersten Jahr als Pfarrerin so viel Zeit mit Kiez-Politik beschäftigt zu sein.
Miteinander lachen und weinen
Ein weiteres Beispiel dafür, wie sehr sie als Pfarrerin auch bereits öffentlich involviert war, sei die Sache mit dem Joghurt: Im Februar habe es da einen Vorfall in der "Frühstücksstube", ein Angebot für bedürftige Menschen in ihrer Gemeinde, gegeben, erklärt Marquardt. Die BZ hatte einen reißerischen Artikel darüber veröffentlicht, dass die Gemeinde einer Hartz-IV-Empfängerin wegen eines zu viel gegessenen Joghurts Hausverbot erteilt habe. "Das stimmt so natürlich nicht. Hier hat es einfach ein Missverständnis gegeben zwischen den ehrenamtlichen Mitarbeitenden und der Besucherin."
So kommt es, dass Marquardt hin und wieder nur noch wenig Zeit hat, sich intensiv mit Theologie zu beschäftigen. Manchmal bedauere sie, dass die Predigt für Sonntag so noch spät am Samstagabend geschrieben werden müsse. Gerade die Sonntagsgottesdienste seien nämlich ihre große Kraftquelle. Ganz beseelt würde sie meistens danach nach Hause gehen. "Ich liebe es gemeinsam mit den anderen Menschen im Gottesdienst zu lachen, zu weinen, zu feiern und eine Auszeit vom Alltag zu nehmen." Marquardt kriegt eine Gänsehaut, wenn sie beispielsweise davon erzählt, wie intensiv sie im vergangenen Jahr den Karfreitagsgottesdienst erlebte. "Da löschten wir gemeinsam Kerzen und die Menschen weinten vor Rührung über die Geschichte von Jesu Tod." Viel Kraft ziehe sie auch aus dem gemeinsamen Singen: "Wir sind eine gesangsstarke Gemeinde und glücklicherweise habe ich einen Kantor, mit dem ich mich in diesem Bereich völlig kreativ ausleben kann."
Es gab schon einige Momente im vergangenen Jahr, in denen Marquardt genau spürte, dass sie aufpassen muss, nicht auszubrennen. "Die Gefahr ist groß." Sie liebt und lebt ihren Beruf mit ganzem Herzen, da ist es manchmal schwer Erholungspausen zu finden. Doch zusammengefasst kann sie mit einem Lächeln auf den Lippen sagen: "Ja, ich habe meinen Traumjob gefunden."