Direkt an der Berliner U-Bahn-Linie U1 steht eine Kirche mit imposantem Kirchturm aus rotem Backstein. Die Evangelische Kirchengemeinde Emmaus-Ölberg befindet sich in unmittelbarer Nähe zum als zwielichtig geltenden Görlitzer Park. Direkt am "Görli", im Herzen von Kreuzberg, kann man also in den Gottesdienst gehen - und auch Drogen kaufen, denn vor allem dafür ist der Park bekannt. Der Kreuzberger Kiez ist schon allein deswegen nicht unbedingt ein konventioneller Gemeindebezirk. Und dennoch hat hier vor wenigen Wochen Rebecca Marquardt ihre erste Stelle als Pfarrerin angetreten.
"Ja, es ist herausfordernd, aber bisher läuft es ganz gut", sagt Marquardt und lächelt. Die Gemeinde habe sie herzlich empfangen. "In den ersten Wochen hier war ich schon sehr aufgeregt wegen der neuen Aufgabe, aber das legt sich so langsam." Ein großes Team stehe hinter ihr: Zwei fest angestellte Diakoninnen, ein Hausmeister, eine Küsterin, ein Kirchenmusiker, Freiwilligen-Dienstler, Putzkräfte, Techniker, Ehrenamtliche. "Die Teamsitzungen sind immer ganz schön groß."
Ihr Vikariat, also die praktische Ausbildung zur Pfarrerin, hat Rebecca Marquardt zuvor in Berlin-Friedrichshagen gemacht. Die Gemeinde dort sei ganz anders gewesen, konventioneller und auch traditioneller, was zum Beispiel die Liturgie in den Gottesdiensten betrifft. Und nun hat die EKBO, also die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Marquardt ins trubelige Kreuzberg entsandt. Das Besondere bei dieser ersten Stelle nach dem Vikariat ist, dass die frischgebackenen Pfarrer und Pfarrerinnen sich diese Stelle nicht selbst aussuchen, sondern von ihren Landeskirchen für zwei Jahre zum "Entsendungsdienst" zugeteilt werden.
So scheint es, dass Rebecca Marquardt gleich nach dem Vikariat auf einer recht besonderen Pfarrstelle gelandet ist: Das Kreuzberger Milieu lässt sich nicht in einem Satz beschreiben. In dem ehemaligen Arbeiterviertel haben Menschen aus vielen Regionen und Nationen ein Zuhause gefunden. Neben den Kirchen stehen hier auch mehrere Moscheen und Synagogen. Der Mietspiegel steigt und der Zuzug junger Familien nimmt zu. Und dazwischen gibt es immer noch die Alteingesessenen und ehemalige Hausbesetzer. Also eine bunte Palette. Und dann gibt es ja noch den Görlitzer Park: "Was da abgeht, hatte bisher allerdings keinen so großen Einfluss auf die Gemeindearbeit", sagt Marquardt, die von ihrem neuen Büro aus direkt zum Park rüber schauen kann: "Wobei mich dieses Thema von Anfang an beschäftigt hat, ich fahre auf meinem Weg zur Arbeit fast täglich mit dem Rad durch den Park. In der Politik und in den Medien ist es ja dauerhaft präsent, weshalb auch ich als Pfarrerin und wir als Gemeinde uns zukünftig damit auseinandersetzen werden müssen. Ich bin ja jetzt auch noch keine zwei Monate hier."
Ebenfalls präsent sei in der rund 2.000 Mitglieder starken Gemeinde das Thema Wohnungs- und Obdachlosigkeit, erzählt Marquardt. Zweimal die Woche gibt es im Kirchencafé eine Frühstücksstube für die Menschen ohne feste Bleibe und Bedürftige. Dort gibt es eine warme Mahlzeit, Kaffee und man kann sich auch in der Gemeinde duschen. Und wenn die Sonne auf die Treppenstufen der großen Kirche scheint, sitzen neben vielen anderen auch die Obdachlosen gerne dort, ganz nah an der Kirche. Aus dem Café, direkt am Lausitzer Platz, könnte man aber noch viel mehr machen, da werde Potenzial nicht genutzt, findet Marquardt. Zusammen mit ein paar anderen ist sie schon auf der Suche nach neuen Ideen. Und sie hat viel Tatendrang, um in den nächsten zwei Jahren in der Gemeinde etwas Neues in Bewegung zu bringen.
Einiges an Neuem hat sie auch mitgebracht. Zum Beispiel das Singen einzelner liturgischer Elemente im Gottesdienst. Das war bisher in der Gemeinde gar nicht üblich. "Die Menschen hier mögen ganz viel Nähe zwischen Pfarrer und Gemeinde, so stehen auch Altar und die kreisförmig gestellten Stühle im Gottesdienst ganz nah beieinander", hat Rebecca Marquardt schon festgestellt. Die Predigt ist hier besonders wichtig. Sie soll nach Vorstellung vieler Gottesdienstbesucher lebensnah, greifbar und gerne auch tagesaktuell und politisch sein - mit Nachgespräch. Eine klassische Liturgie schreckt viele eher ab. "Nachdem die Menschen allerdings festgestellt haben, dass ich mit meinen Gesängen inhaltlich gar nicht so viel an den Gottesdiensten verändert habe, ist das auch kein Problem mehr", erzählt die frischgebackene Pfarrerin.
Denn grundsätzlich wird in der Gemeinde sehr viel musiziert: es gibt mehrere Chöre für Sänger und Sängerinnen, zwei Posaunenchöre und zudem auch noch eine Nachwuchsgruppe für Blechbläser. Zur Gemeinde gehört auch eine Kindertagesstätte. Etwas besonders ist vielleicht, dass es fast täglich Yoga- und zusätzlich auch Qui-Gong-Angebote in den Räumen der Gemeinde gibt. Und das kulturelle Programm der Gemeinde ist mit zahlreichen Konzerten, Lesungen und Theateraufführungen außerordentlich.
"Besonders ist zudem, dass die Gemeinde so jung ist", sagt Marquardt. Es gibt beispielsweise vergleichsweise selten Beerdigungen. "Wie wir Kirche für die jungen Familien hier im Kiez attraktiv machen können, diese Frage beschäftigt mich sehr", so die junge Pfarrerin: "Wie kann eine Gemeinde eine Generation an sich binden, die an längerfristig festgelegter Bindung gar nicht so interessiert ist, sondern mehr an gelegentlichem Kontakt?"
Es gibt so viel zum Nachdenken, neue Projekte, neue Ideen. Rebecca Marquardt sagt, dass sie sich derzeit sieben Tage die Woche mit ihrer neuen Tätigkeit gedanklich beschäftige. Die Arbeit nehme zurzeit mit Abstand den meisten Raum in ihrem Leben ein. "Doch das kann ich gerade auch leisten und es erfüllt mich auch. Ich bin glücklich, diese Stelle zu haben."