epd: Herr Ratsvorsitzender, Weihnachten ist ein Fest der Familie. Sie aber haben an Heiligabend und an den Feiertagen so viele Termine, dass kaum Zeit mit Ihren Angehörigen bleibt. Stört Sie das?
Heinrich Bedford-Strohm: Wir wissen ja vorher, worauf wir uns einstellen müssen. Das lässt sich planen. Wenn ich an Heiligabend mittags zusammen mit anderen Helfern Menschen, die in Armut leben, Schweinebraten serviere, dann sind meine Frau und meine Söhne dabei. Aber es gibt natürlich auch Zeiten, da sind wir nur als Familie zusammen. Darauf freue ich mich sehr.
2018 war ein Jahr des politischen Streits. Die Bundespolitik wurde vor allem im Sommer durch die Stänkereien der CSU und die Bayern-Wahl aufgeheizt. Erwarten Sie, dass jetzt Ruhe einkehrt?
Bedford-Strohm: Das politische Klima hat sich schon beruhigt. Ich spüre in Bayern eine deutliche Veränderung: Die Demokraten stehen zusammen, die scharfen Töne haben abgenommen. In Deutschland und gerade im wirtschaftlich starken Bayern haben wir die Chance, ein ökologisches Wirtschaftsmodell zu entwickeln, das nicht auf der Zerstörung der Natur beruht. Das wird man uns in spätestens zehn Jahren förmlich aus den Händen reißen. Alle, die heute eine Transformation der Wirtschaft vorantreiben, handeln nicht nur entlang ethischer Grundorientierungen, sie sind auch besonders klug.
Was erwarten Sie für die Wahlen im nächsten Jahr. Werden die Rechtspopulisten an Zustimmung verlieren?
Bedford-Strohm: Das hoffe ich, und ich erwarte das auch. Gerade für die Europawahl im Mai wünsche ich mir entsprechende Ergebnisse. Derzeit zeigen viele Menschen, die für die Demokratie einstehen, deutlich Flagge. Jene, die aufpeitschen, ohne Lösungen anzubieten, sitzen jetzt auch in den Parlamenten. Da bricht manches von den großen Worten schnell zusammen, davon bin ich überzeugt.
Lassen Sie uns zu einer aktuellen ethischen Frage kommen, die derzeit in Deutschland politisch diskutiert wird: Die Koalition will am Werbeverbot für Abtreibungen festhalten, den Paragrafen 219a aber so ergänzen, dass die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und Ärztekammern neutral über Schwangerschaftsabbrüche informieren. Ein guter Kompromiss?
Bedford-Strohm: Es gibt doch eine große Einigkeit darüber, dass es Werbung für einen Schwangerschaftsabbruch nicht geben darf. Eine Abtreibung ist eine rechtswidrige, unter bestimmten Bedingungen aber straffreie Handlung. Im Zentrum des ethischen Konflikts stehen die Not der Frau und das Leben eines werdenden Menschen. Einfache Antworten auf diesen Konflikt sind nicht tragfähig. Frauen muss in dieser Situation geholfen, sie müssen gut beraten werden. Und nach ihrer Entscheidung müssen sie begleitet werden, egal wie die Entscheidung lautet. Und deswegen müssen auch medizinische Informationen über einen Schwangerschaftsabbruch möglich sein.
Wird das mit dem Vorschlag der großen Koalition erreicht?
Bedford-Strohm: Ich bezweifle, dass eine Gesetzesänderung notwendig ist. Man kann schlicht und einfach organisieren, dass jede Frau verlässlich und gut informiert wird. Aber die Entscheidung über eine Änderung am Gesetz ist am Ende keine Bekenntnisfrage. Entscheidend ist für mich, dass wir am unbedingten Ziel festhalten, die Zahl der Abtreibungen zu minimieren.
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat sich dafür ausgesprochen, Pränataltests bei Risikoschwangerschaften als Kassenleistung anzuerkennen. Öffnet das nicht das Tor, um regelmäßig die Geburt von Kindern etwa mit Down-Syndrom zu verhindern?
Bedford-Strohm: Genau das wollen wir nicht! Wir verbinden unsere Zustimmung zu Pränataltests als Kassenleistung bewusst mit dem Angebot einer Beratung. Diese Beratung hat aus christlicher Sicht den Lebensschutz zum Ziel. Wir sehen sehr wohl die große Gefahr, dass menschliches Leben nach bestimmten Kriterien aussortiert wird, wenn vorgeburtliche Tests, die ja längst verfügbar sind, ungeregelt genutzt werden. Der einzige Grund, warum wir uns nicht gegen die Einstufung als Kassenleistung ausgesprochen haben, ist der, dass wir Einfluss auf die Bedingungen dieser Tests gewinnen wollen, um genau das zu verhindern: Selektion von Leben.
Die katholische Kirche sieht das anders.
Bedford-Strohm: Im Ziel sind wir uns völlig einig: Wir wollen ungeborenes Leben schützen. Da gibt es viel mehr Konsens zwischen den beiden großen Kirchen, als es oft dargestellt wird. Aus unserer Sicht gelingt der Schutz von Ungeborenen am besten, wenn man verhindert, dass sich Menschen Pränataltests unkontrolliert im Internet bestellen.
An Weihnachten feiern Christen, dass Gott Mensch geworden ist und sich verletzlich im Kind in der Krippe zeigt. Wie verletzlich das Leben ist, haben jüngst die Meldungen über genveränderte Zwillinge aus China gezeigt. Sind die Möglichkeiten der Gentechnik Fluch oder Segen?
Bedford-Strohm: Es kommt ganz darauf an, wie man damit umgeht. Wir haben jetzt schon auf der Gentechnik basierende medizinische Möglichkeiten, die ein absoluter Segen sind, die Leben retten und Menschen heilen. Das kann man nur befürworten. Hier geht es aber um eine Veränderung in der Keimbahn, und das öffnet die Tür zur Menschenzucht. Diese Grenze dürfen wir nicht überschreiten.
Wie ist diese Grenze zu sichern?
Bedford-Strohm: Ich wünsche mir eine breite zivilgesellschaftliche Debatte über solche neuen Technologien. Ich glaube nicht, dass alles, was möglich ist, auch getan werden wird. Wir als Gesellschaft können bestimmen, was sein darf und was nicht.
Ist das nicht zu optimistisch gedacht, dass eine ethische Debatte weltweit Wirkung zeigt?
Bedford-Strohm: Im konkreten Fall hat der chinesische Wissenschaftler nach Bekanntwerden seine Experimente gestoppt, und die Staatsführung hat auch sehr empfindlich reagiert. Was die Weltöffentlichkeit sagt, ist nicht egal. Denken Sie an das menschliche Klonen: Anfang des Jahrtausends haben wir eine breite Debatte geführt, und bis heute ist kein geklonter Mensch bekannt.
Die evangelische Kirche hat in den vergangenen Monaten intensiv über Wege zur Aufarbeitung und Prävention sexualisierter Gewalt debattiert. Vor wenigen Tagen traf sich der Rat mit dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig. Wie ist der Stand?
Bedford-Strohm: Ich sehe überall in der evangelischen Kirche eine große Bereitschaft, schonungslos hinzusehen und aufzuklären. Wir wollen das sehr gründlich machen. Von einer Zusammenarbeit mit dem Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung können alle nur profitieren: bei der Aufarbeitung der Fälle, beim Aufruf an alle Menschen, sich zu melden, wenn sie solche Erfahrungen gemacht haben, und bei der Prävention.
Wie arbeiten Sie denn in Zukunft mit Herrn Rörig zusammen?
Bedford-Strohm: Wir haben darum gebeten, dass für die Aufarbeitung gemeinsam mit den Betroffenen klare Leitlinien entwickelt werden. Für alle gesellschaftlichen Organisationen muss es genau definierte Maßstäbe bei der Aufarbeitung geben. Das Grundproblem betrifft alle Bereiche, in denen es Jugendarbeit gibt, wenn auch die Gefahrenquellen unterschiedlich sind. Wir wollen uns gerne helfen und beraten lassen. Deswegen wollen wir unsere Zusammenarbeit verstärken.
Wie wollen Sie Betroffene stärker beteiligen an der Aufarbeitung und dann in einem weiteren Schritt auch entschädigen?
Bedford-Strohm: Das Wort "Entschädigung" würde ich in diesem Zusammenhang nicht verwenden. Für das geschehene Leid kann niemand "entschädigt" werden. "Anerkennungsleistungen" oder "Unterstützungsleistungen" sind da passendere Begriffe. Auch das sind Themen, über die wir noch genauer mit dem Unabhängigen Beauftragten sprechen werden.
Sieht man schon etwas klarer, was die geplanten Studien zur Aufarbeitung angeht? Wie viele wird es geben, wer wird sie durchführen, wann sollen sie fertig sein?
Bedford-Strohm: Für die evangelische Kirche und die Diakonie muss ein Untersuchungsdesign entwickelt werden, das die unterschiedlichen Strukturen aufnimmt. Es bietet sich bei der evangelischen Kirche nicht an, die Untersuchung ausschließlich auf Pfarrer und Pfarrerinnen zu beschränken. Vielmehr wird sie sich auf alle haupt- und ehrenamtlich in der Kirche Tätigen beziehen. Wie das am besten geschehen kann, ist jetzt Thema im Beauftragtenrat.
Gehen Sie davon aus, dass sich alle 20 Landeskirchen an den Studien beteiligen?
Bedford-Strohm: Die Kirchenkonferenz, in der alle Landeskirchen in der EKD vertreten sind, hat das geschlossen erklärt. Wie die einzelnen Landeskirchen das umsetzen, obliegt deren Entscheidung. Aber wir stimmen uns ab. Auf EKD-Ebene ist eine Dunkelfeld-Studie geplant, die einen Überblick über das Ausmaß, die Erscheinungsformen und die Folgen sexualisierter Gewalt durch haupt- und ehrenamtliche Mitarbeitende geben soll. Dazu kommt eine systemische Analyse, die sich auf einzelne Studien aus den Landeskirchen beziehen soll, um deutlich zu machen, wo die spezifischen Gefährdungen auf evangelischer Seite liegen.
Wo liegen die Ihrer Meinung nach?
Bedford-Strohm: Es muss beispielsweise untersucht werden, ob die partnerschaftliche Kultur in der evangelischen Kirche mit flachen Hierarchien einer der Faktoren gewesen ist, die sexualisierte Gewalt begünstigt haben. Sie kann als Einfallstor missbraucht werden, unter dem Anschein von menschlicher Nähe Grenzen zu verletzen.
Auf der EKD-Synode im November wurde nicht nur das Thema sexualisierte Gewalt diskutiert, sondern auch die Frage, wie es der evangelischen Kirche gelingen kann, Menschen unter 30 stärker an die Kirche zu binden. Welche Vorstellungen haben Sie dazu?
Bedford-Strohm: Der erste Punkt ist sicher Beteiligung. Junge Menschen sind nicht das Gegenüber der Kirche, sondern schon jetzt ein wesentlicher Teil der Kirche. Deshalb wollen sie genauso an den Entscheidungen der Kirche beteiligt werden wie Menschen anderen Alters. In die kirchlichen Gremien werden in der Regel Leute gewählt, die sich irgendwo verdient gemacht haben. Und das sind oft ältere Menschen. Deswegen brauchen wir andere Mechanismen. Ein Quotensystem wäre aus meiner Sicht zwar nur eine Notlösung, aber darüber müssen wir sprechen. Jungsynodale brauchen das Wahlrecht. In der bayerischen Landeskirche haben wir das gerade eingeführt, für die EKD wünsche ich mir das auch. Einen entsprechenden Prüfauftrag hat die Synode im Herbst erteilt.
Was halten Sie von der Jugendsynode in der rheinischen Kirche, die ab dem nächsten Jahr in zeitlicher Überschneidung zur Landessynode tagt?
Bedford-Strohm: Das ist ein interessantes Modell. Ich würde am liebsten als heimlicher Gast dabei sein und hören, was die jungen Menschen dort sagen. Aber das eigentliche Ziel muss sein, dass sie in den Hauptsynoden vertreten sind und dort die Kirchengesetze mitverabschieden können.
Das zielt jetzt auf die Jungen, die sich innerkirchlich engagieren oder das wollen. Wie muss die Kirche auf die jungen Menschen außerhalb ihrer Mauern eingehen?
Bedford-Strohm: Auch im Hinblick auf die Zielgruppenarbeit muss etwas geschehen. Es gibt die evangelischen Studierendengemeinden. Das ist aber nur ein Segment von akademischen Jugendlichen. Darüber hinaus haben wir in dieser Altersgruppe viel zu wenige Angebote. Diese weiterzuentwickeln, haben wir uns jetzt besonders vorgenommen.
Gerade Alleinstehende gibt es immer mehr. Sie haben weniger Kontakt zu den Gemeinden über kirchliche Handlungen wie Trauung oder Taufe. Müsste man diese Gruppe nicht stärker in den Blick nehmen?
Bedford-Strohm: Da können digitale Angebote weiterhelfen. Dass nicht jede Gemeinde ein Angebot für jede einzelne Zielgruppe machen kann, ist klar. Aber wer Menschen seiner Altersgruppe mit ähnlicher Lebenserfahrung sucht, muss diese finden können. Über digitale Vernetzung kann man Menschen noch besser zusammenbringen. Vernetzung ist ein Schlüsselwort für die Zukunft.
Muss man nicht über neue Gemeindeformen nachdenken? Ist die Ortsgemeinde überholt?
Bedford-Strohm: Die Ortsgemeinde ist nicht überholt: Die Kirche ist ein einmaliges Modell für eine internationale Zivilgesellschaft, weil wir überall mit unseren Gemeinden lokal verwurzelt sind und uns gleichzeitig ein universaler Horizont verbindet. Da ist die Ortsgemeinde immer noch ein Erfolgsmodell. Aber die Ortsgemeinde muss sich auch verstehen als Teil eines Ganzen. Entsprechende ergänzende Angebote gibt es ja auch schon in allen Landeskirchen.
Kann es eine Gemeinde geben, die nur im digitalen Raum existiert?
Bedford-Strohm: Eine Netzgemeinde kann eine Gemeinde, in der man sich von Angesicht zu Angesicht begegnet, niemals ersetzen. Aber ich schließe nicht aus, dass über einen Austausch im Netz ein Gemeinschaftsgefühl entstehen kann. Trotzdem wäre ich da zurückhaltend. Für mich ist die digitale Gemeinschaft immer nur komplementär zu einer anfassbaren Gemeinschaft.
Können Sie sich ein digitales Abendmahl vorstellen?
Bedford-Strohm: Das fällt mir schwer. Aber wir sollten natürlich offen sein und auf die Kraft des Heiligen Geistes vertrauen. Wer weiß, ob der Heilige Geist nicht auch über die digitalen Kanäle seine frohe Botschaft zu den Menschen bringt.