An Detlev Zanders Hotelzimmer in Würzburg lässt sich sehr schön sehen, wo die evangelische Kirche Nachholbedarf hat - und auf wie viel die Kirche achten muss, wenn sie sich ernsthaft mit dem Thema sexualisierter Gewalt in ihren Reihen auseinandersetzen will. Das kleine Zimmer liegt direkt über der Küche eines Restaurants und riecht auch so. Das Bett ist schmal und mit Kiefernfurnier verkleidet. Es ist Zufall, dass hier der gleiche dunkelbraune, kurzflorige Teppichboden liegt wie in Detlev Zanders Zimmer im Kinderheim Hoffmannhaus der Brüdergemeinde Korntal. Dort, wo er zehn Jahre lang von Männern und Frauen gedemütigt, geschlagen und vergewaltigt wurde.
Die EKD-Synodalen tagen im Vier-Sterne-Hotel mit Wellnessbereich. Es geht hier nicht um Sozialneid. Es geht um Wertschätzung, darum, jemanden auf Augenhöhe zu bringen. Detlev Zander und eine andere Betroffene von sexualisierter Gewalt sind zur EKD-Synode gekommen. Sie hören zu, was die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs zu sagen hat. Sie ist Sprecherin des EKD-Beauftragten-Rates für den Schutz vor sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche. Danach werden sie mit dem Ratsvorsitzenden der EKD, Bischof Heinrich Bedford-Strohm, und den Synodalen zu Mittag essen.
Dass Detlev Zander in Würzburg ist, hat er sich hart erarbeitet. Er hat selbst um die Einladung gebeten, und sie kam sehr kurzfristig. Da gab es schon längst kein Zimmer mehr im Vier-Sterne-Hotel. Diejenige, die sein Zimmer im Hotel am Bahnhof gebucht hat, konnte nicht ahnen, dass es ein solches Kabuff ist. Das Hotel hat gute Bewertungen bekommen. Und doch ist es unglücklich gelaufen. Hier zeigt sich, dass bisher nur wenige in der evangelischen Kirche zuständig für dieses anstrengende Thema sind - oder sich dafür verantwortlich fühlen. Und dass nur wenige wissen, worauf es ankommt, wenn man mit Betroffenen umgeht, die sich einem anvertrauen wollen. Für Vertrauen braucht es die richtigen Rahmenbedingungen, die Aufarbeitungskommission der Bundesregierung hat das verstanden und das Vertrauen vieler Betroffener gewonnen, die sich im Juni 2018 auf einem öffentlichen Hearing zu sexualisierter Gewalt in den Kirchen geäußert haben.
Die große Hoffnung heute ist: Dass Kirsten Fehrs' Einbringung auf der Synode in Würzburg auf breiter Ebene zu mehr Sensibilität führt. Dass ihr Bericht hoffentlich dafür sorgt, dass die evangelischen Landeskirchen sich wirklich zusammentun, um sich zu professionalisieren. Es soll unter anderem eine externe Anlaufstelle für Betroffene geben, die für das gesamte Bundesgebiet zuständig ist. Das ist gut, denn eine solche Stelle wünschen sich viele Betroffene, die Erfahrungen gemacht haben mit "Aufklärungsprozessen" in Landeskirchen, die häufig diesen Namen nicht verdienen. Die Gründe dafür sind vielfältig - einer davon ist, dass sich das Disziplinarrecht der Kirchen nicht dafür eignet, Opfern Genugtuung zu verschaffen.
"Eine Kirche, die solcher Gewalt nicht wehrt, ist keine Kirche mehr"
Der Grund für das Leid vieler Betroffener in der evangelischen - und auch katholischen - Kirche sind nicht allein die niederschmetternden Erlebnisse ihrer Kindheit. Das Leid hat sich häufig fortgesetzt, wenn sie es wagten, die Täter bei der Institution Kirche zu melden. Dann, wenn sie sich offenbarten, um als Erwachsene Mitleid, Verständnis und Entschädigung für das in der Kindheit Erlebte zu bekommen, wiederholte sich bei ihnen die Erfahrung aus den Jahren, in denen sie als Kinder hilflos sadistischen und sexuell gestörten Erwachsenen ausgeliefert waren. Als sie es wagten, das Selbstbild der Kirche zu stören: sicher auf moralischem Grund, die wahren Werte lebend, dem sich opfernden Jesus Christus zur Seite stehend - da erfuhren sie die gleiche Macht- und Hilflosigkeit wie in ihrer Kindheit: Die Erwachsenen/die Amtspersonen in Kirchenverwaltungen, schützen sich gegenseitig und setzen die Kinder/die heute erwachsenen Betroffenen mit ihrer Autorität unter Druck.
Detlev Zander beispielsweise hat zweimal versucht, sich das Leben zu nehmen: Einmal als 14-Jähriger im Kinderheim. Und einmal, nachdem er angefangen hatte, von der evangelischen Brüdergemeinde Korntal Schadenersatz zu fordern.
Dass sich die evangelische Kirche in ihrer Gesamtheit dieses Mechanismus' gewahr wird und gemeinsam daran arbeitet, eine Retraumatisierung Betroffener zu verhindern, darum bat Kirsten Fehrs in ihrem Bericht. Sie bekam langanhaltenden Applaus, die Synodalen standen dafür auf. In der anschließenden Aussprache brachten viele zum Ausdruck, wie tief beschämt sie über das sind, was Kirsten Fehrs ihnen vorgetragen hatte. Diese Scham zeigt leider auch, dass sich einige Synodale erst jetzt bewusst werden, dass das Thema sexualisierte Gewalt in der Kirche existentiell an den Grundfesten des Selbstverständnisses ihrer Kirche rüttelt. "Eine Kirche, die solcher Gewalt nicht wehrt, ist keine Kirche mehr", sagte Kirsten Fehrs zu den Synodalen. "Kind, du bist uns anvertraut, das möchten wir so sagen können, dass die Menschen uns das abnehmen", sagte die Synodale Katrin Göring-Eckardt.
"Die Kirche von 2018 ist nicht mehr die gleiche wie 2010", sagte ein anderer Synodaler. Ja, das stimmt. Aber sie ist immer noch eine Kirche, die irre viel zu lernen hat. Kirsten Fehrs kann diesen Prozess vorantreiben. Sie, die Bischöfin der Nordkirche, hat sich seit ihrem Amtsantritt in der Nordkirche mit dem Leid der Betroffenen und ihrem Wunsch nach Aufarbeitung auseinandergesetzt. In der Nordkirche hat sie viel erreicht und viel gelernt. Auch das Hearing im Juni hat sie besucht und sich anders als viele andere Oberhäupter der evangelischen Landeskirchen den Geschichten der Betroffenen gestellt.
Die EKD-Synode hat sich das Thema nicht selbst gewählt: Sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche. Den Druck machten das Hearing und der Missbrauchsbericht zu Fällen in der katholischen Kirche, den die Deutsche Bischofskonferenz im September vorgestellt hatte. Die Scheinwerfer sind an, die Menschen erwarten eine Antwort. Kirsten Fehrs weiß das, die Kirchenkonferenz auch: Anfang September hat sie sich entschieden, einen Beauftragten-Rat aus fünf Menschen mit höheren Ämtern in der Kirche damit zu betrauen, sich um die richtige Strategie zu bemühen, wie mit Betroffenen umgegangen werden kann und flächendeckend aufzuarbeiten. Herausgekommen ist ein 11-Punkte-Handlungsplan, der unter anderem zwei Studien vorsieht: Eine, die herausfinden soll, was die Landeskirchen in der Vergangenheit falsch gemacht haben. Dann eine so genannte Dunkelfeld-Studie, die herausfinden soll, wieviele Betroffene von Missbrauch es wirklich gibt und warum sie sich nicht getraut haben, mit ihren Geschichten hervorzutreten.
Die evangelische Kirche ist bisher noch im Tiefflug unter dem katholischen Missbrauchsskandal hindurchgerauscht. Aber das kann sich ändern. Und davor haben sicherlich manche Angst: Denn es könnte Kirchenaustritte bedeuten, so wie in der katholischen Kirche auch. Es könnte einen größeren Ansehensverlust für die evangelische Kirche bedeuten.
In der Aussprache der Synode wurde jedoch auch deutlich, dass zumindest die, die sich zu Wort meldeten, bereit sind, das Vorgehen des neuen Beauftragten-Rates erstmal bedingungslos zu unterstützen. Henning von Wedel, Synodaler aus der Nordkirche, sagte: "Der Skandal ist, wie wir als Kirche mit Betroffenen umgegangen sind." Wenn aus dieser Einsicht echte Empathie und Verständnis für die Betroffenen erwächst, kann der Aufarbeitungsprozess gelingen. Und hoffentlich bekommen Betroffene die Möglichkeit, an diesem Aufarbeitungsprozess innerhalb der Kirche konstruktiv und auf Augenhöhe mitzuarbeiten. Dann ist vielleicht auch ein Zimmer im Vier-Sterne-Hotel für sie drin.