Bunte Perlen reihen sich virtuell an einem Band aneinander – neun Stück an der Zahl. Jede Perle steht für etwas anderes: für die Muttersprache, den familiären Kontext, prägende Fähigkeiten oder die Religion. Jede Perle symbolisiert ein Teil dessen, was die eigene Identität ausmacht. Deshalb gleicht auch keine Perlenkette der andern.
Für die Schülerinnen und Schüler der Kaufmannsschule II in Hagen-Hohenlimburg, der Nichita Stanescu Schule aus der rumänischen Hauptstadt Bukarest und der Vasil Levski Schule aus Dolni Chiflik in Bulgarien ist der Diskurs über das, was ihre Identität ausmacht, Teil eines groß angelegten und von der EU geförderten Projekts: "Becoming a multicultural European", also multikultureller Europäer werden, heißt es. Dabei geht es um die europäische Idee, um Vielfalt, um Religion und wie ein friedliches Miteinander in Europa erreicht werden kann.
An der Projekt-Idee wurde schon länger gearbeitet – nicht erst, seitdem nationale Alleingänge wieder in Mode gekommen sind. Bereits 2014 tauschte sich Sandra Hansen, Europabeauftragte der Kaufmannsschule II, erstmals auf der EU-Plattform eTwinning, auf der Schulen in Europa digital miteinander verbunden werden, mit Kollegen über Stereotype und multikulturelle Identitäten in Europa aus. Mit einigen Lehrern versteht sich die Deutsch- und Englisch-Lehrerin Hansen so gut, dass die gemeinsam einen ersten Plan für das Projekt entwickeln. Es soll den Schülerinnen und Schülern die Migrationsströme zwischen Deutschland, Rumänien und Bulgarien aufzeigen und sie zum Nachdenken über den Umgang mit Vielfalt und der interreligiösen Dimension dieser Aufgabe anregen.
Die EU lehnten den ersten Antrag ab, doch Sandra Hansen glaubt an die Idee. Und sie hat Rückendecken von ihrem Vorgesetzten. Schulleiter Thomas Vogl erkennt das Potenzial dieses Projekts. "Normalerweise erleben wir die EU nicht wirklich – höchstens durch irgendwelche Verbote", erzählt er und führt aus, dass die Schülerinnen und Schüler sich durch diesen inhaltlichen und persönlichen Austausch am Ende enger verbunden fühlen werden. Außerdem, sagt er, sichert es den Frieden in Europa, wenn sich die Nachbarländer als Partner besser kennenlernen. "Das böse, mit Vorurteilen beladene Land bekommt ein Gesicht. Und auf einmal kann es dann gar nicht mehr als böse angesehen werden", so Vogl. Beim zweiten Versuch im Jahr 2016 ist auch die Europäische Union von der Idee überzeugt und unterstützt die strategische Schulpartnerschaft der drei Schulen für das interkulturelle und interreligiöse Projekt für zwei Jahre mit 25.000 Euro.
Im Vorfeld, so Sandra Hansen, sei es gar nicht so leicht gewesen, Schülerinnen und Schüler für die Reisen in die südosteuropäischen Länder zu begeistern. Rumänien und Bulgarien hätten einfach ein schlechtes Image unter der Schülerschaft. "Eine Fahrt nach Frankreich oder Spanien bekommen wir natürlich schneller vor", stimmt Ellen Gradtke zu, die neben Hansen und Sabine Sendtko ebenfalls am Projekt beteiligt ist. Am Ende habe man aber einige Schüler gefunden, die offen an die Sache herangegangen sind.
In Rumänien treffen sich Schüler und Lehrer der drei Nationen dann, um über die gemeinsame Migrationsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert zu reden. Das Bild der deutschen Schüler, das vor allem von der medialen Darstellung der Migrationsgründe von Rumänen und Bulgaren seit Wegfall der Zuwanderungsbeschränkung geprägt ist, wird auf den Kopf gestellt: In eigener Recherche finden sie heraus, dass schon vor Jahrzehnten viele Bulgaren nach Deutschland kamen, um zu studieren und dann wieder in ihre Heimat zurückkehrten. Und dass es auch Migrationsbewegungen von Deutschland in die südosteuropäischen Staaten gab.
Außerdem erfahren sie von den rumänischen und bulgarischen Schülern, welche Auswirkungen die Migration auf ihr Land hat und wie sie es wahrnehmen. "Die Rumänen und Bulgaren haben uns die Augen dafür geöffnet, wie schwer es für sie ist, wenn so viele qualifizierte Kräfte aus dem Land abwandern", sagt Sabine Sendtko. Neben der Medien- und Recherchekompetenz, die die Schülerinnen und Schüler bei dieser Aufgabe lernen sollten, ging es auch noch um eine andere wichtige Erkenntnis. "Die Schüler sollten erkennen, dass sich Menschen schon immer aus verschiedenen Gründen bewegt haben und dass es keineswegs ein neues Phänomen ist", so Hansen, die Wert darauf gelegt hat, die Jugendlichen zu vermitteln, dass der Motor der Migration nicht nur Kriege und wirtschaftliche Not, sondern oftmals auch der Hunger nach Bildung waren.
Beim zweiten Treffen in Bulgarien erarbeiten die Schüler nun gemeinsam ein Strategiepapier zum Umgang mit Vielfalt. Dabei diskutieren sie nicht nur über die Unterschiedlichkeiten in Europa, sondern auch über die an ihrer Schule. Geschlecht, Nationalität, Religionszugehörigkeit, Behinderung, Sexualität – nicht bei allen dieser vielfältigen Ausprägungen ist man sich einig, wie man damit umgehen sollte. Die 17-jährige Miriam Remmo erinnert sich noch sehr gut an die Diskussion über den Umgang mit Homosexualität: "Für die Bulgaren war das ein absolutes No-Go, da muss man sich total anpassen. Die sind da viel strenger als wir. Das hätte ich nicht erwartet", erzählt Remmo.
Und nicht nur das überrascht die Jugendliche: Auch mit der Religiosität der Bulgaren hat sie nicht gerechnet. "Ich habe eine Schülerin zu Hause besucht und da hingen überall Kreuze und die haben privat auch religiöse Musik gehört", so Remmo. Die überschwängliche Gastfreundschaft der Menschen dort habe sie überrascht und tief berührt. "Beim Anblick des Hauses hat man schon gesehen, dass die Leute nicht viel Geld haben, aber sie haben aufgetischt als wären sie aus gutem Hause." Die Unterkunft im Fünfsternehotel habe für sie im krassen Gegensatz zum alltäglichen Leben der bulgarischen Schüler gestanden.
Das dritte Projekttreffen nimmt schließlich die Religionen in den Fokus. "Wir setzen uns stark für den interreligiösen Dialog ein, weil wir denken, dass ein multikultureller Europäer in der Lage sein sollte, ein vernünftiges Gespräch mit Andersgläubigen zu führen", so Sandra Hansen. Ihr bulgarischer Kollege Milan Bekalor kann dem nur zustimmen: "Ich denke, dass sich die jungen Menschen aufgrund der weltweiten Lage bewusst werden müssen, welche Rolle Religionen in der Gesellschaft und in ihrem Leben spielen." Heutzutage spiele aus seiner Sicht die Religion nämlich eine viel größere Rolle als früher.
Aufmerksamkeit auf Verbindendes statt Trennendes
Auch Sabine Sendtko merkt im Religions- und Politikunterricht, dass Religionszugehörigkeit eine Rolle spielt. Sie erzählt, dass sich viele Muslime vorverurteilt fühlten, berichtet aber auch davon, dass sich der Konflikt zwischen Muslimen und Atheisten und Muslimen und Juden an der Schule zuspitzt. "Wenn wir die Essener Synagoge besuchen, die heute ein Museum ist, dann kommt es vor, dass muslimische Eltern ihren Kindern den Besuch verbieten", sagt Sendtko. Und wenn es darum ginge, dass Schüler im Unterricht die Weltreligionen vorstellen, wolle niemand das Judentum übernehmen.
Deshalb widmet sich der erste Projekttag auch dem Entdecken der Gemeinsamkeiten der Religionen. "Sonst konzentriert man sich immer darauf, was die Religionen unterscheidet, aber wir wollten zeigen, was sie verbindet. So kommt man vielleicht zu einer entspannteren Haltung", sagt Hansen. Außerdem, ergänzt Sabine Sendtko, wollte man zeigen, dass der Mensch im Zentrum der Religion steht und Nächstenliebe für alle gilt.
Mit einem Ausflug nach Duisburg-Marxloh in eine Moschee und zu einer von der katholischen Kirche getragenen Anlaufstelle für Zuwanderer wird das Gerede über die Gemeinsamkeiten der Religionen Wirklichkeit. "Ich war überrascht, dass die verschiedenen Religionen so gut zusammenarbeiten können. Im Leitungsteam der Moschee waren Christen und bei der katholischen Anlaufstelle haben muslimische Sozialarbeiter gearbeitet. Das ist echt beeindruckend", erzählt Manuel Deller.
Die meisten Schüler sehen das Verhältnis zwischen den Religionen recht locker. "Sie ist Christin, ich bin Muslim. Und wir sind Freunde. Beste Freunde sogar", erzählt einer der Gastschüler. Und auch die deutschen Schüler liegen nicht aus Angst vor Islamisierung nachts wach. "Wir haben hier Religionsfreiheit und dazu gehören auch die Gotteshäuser. Wir haben hier ja schließlich auch überall Kirchen rumstehen", so eine lapidare Schülermeinung zum Thema Moscheebau.
In kleinen Gruppen erarbeiten die Schülerinnen und Schüler dann die Regeln, die ihrer Ansicht nach für den interreligiösen Dialog wichtig sind. Und obwohl jede Gruppe für sich arbeitet, sind die Konzepte, die sie bewegen, recht gleich: wie zum Beispiel Respekt anderen gegenüber haben, niemanden ausschließen, Interesse zeigen und zuhören, ohne zu urteilen, auch wenn man anderer Meinung ist. "Ein Mensch ist ein Mensch. Nur seine Taten, nicht seine Religion, spielen eine Rolle", lautet eine der Erkenntnisse.
Am Ende der Projektwoche sind sich eigentlich alle Schülerinnen und Schüler einig, dass sich ihr Horizont erweitert hat. Und dass sich ihre Haltung gegenüber Rumänen und Bulgaren geändert hat. "Hier in Hagen leben viele Rumänen und Bulgaren, die sich nicht so toll benehmen. Deswegen hatte ich schon Vorurteile", gesteht Kaltrine Ibishi. Die Menschen, die sie jetzt beim Projekt kennengelernt habe, seien jedoch ganz anders gewesen – netter, offener und freundlicher. "Einzelne bauen Scheiße und man bezieht es gleich auf die ganze Gruppe, obwohl die anderen nichts dazu können. Hier haben wir noch mal so richtig aufgezeigt bekommen, dass Vorurteile blöd sind", sagt auch Manuel Deller.
Dass Vorurteile über den Haufen geworfen, Schranken abgebaut, Europa gestärkt und unvergessliche Erfahrungen gemacht worden sind, freut Schulleiter Thomas Vogl, Sandra Hansen und das gesamte Projektteam von der Kaufmannsschule II ungemein.