Gerade hallt das zweite Klingeln durch die Flure der Kaufmannschule II in Hagen-Hohenlimburg, als Ellen Gradtke die letzten Stufen zum Unterrichtsraum heraufkommt. Die Schüler der 13. Klasse des Berufskollegs warten bereits vor der Tür. Einige unterhalten sich, andere schauen auf ihr Smartphone. Es ist die achte Stunde an diesem Dienstag und evangelischer Religionsunterricht steht auf dem Stundenplan. Doch Gradtkes Schüler sind nicht alle evangelisch: "Ich unterrichte hier evangelische, katholische und auch muslimische Schüler zusammen und ich versuche den Schülern ein besseres Verständnis der jeweils anderen Religion zu vermitteln", sagt Pfarrerin Gradtke.
Zurzeit geht es im Unterricht um die Vorstellungen von Himmel und Hölle im Christentum und im Islam. Die Schüler haben zu einzelnen Aspekten Präsentationen vorbereitet und tragen sie vor. Anna ist als erste dran und erklärt ihren Mitschülern, wie sich Christen früher das Jüngste Gericht vorgestellt haben. Die Schüler gehen respektvoll miteinander um, niemand spielt offen an seinem Smartphone herum oder zeigt sonst irgendwie Desinteresse. Trotzdem stellt nach Annas Vortrag nur Ellen Gradtke Fragen, die Schüler schweigen. Danach ist Mücahit mit den Vorstellungen über das Jüngste Gericht im Islam dran. Als er davon berichtet, dass der Prophet Isa ibn Mariam, also Jesus, dem Koran zufolge gegen den Antichristen kämpfen wird, macht sich Erstaunen breit. "Ich habe das nicht irgendwo aus dem Internet, sondern von dem Imam in meiner Moschee", beteuert Mücahit. Geduldig beantwortet er die Fragen seiner Mitschüler. Er findet es gut, dass sie sich für seinen Glauben interessieren. "Ich rede gern darüber und finde es auch nicht schlimm, wenn jemand nachfragt – weder im Unterricht noch im Privaten", sagt Mücahit.Die Schüler sehen den Religionsunterricht vor allem als gute Möglichkeit an, eine hohe Punktzahl ins Abitur einzubringen. Die Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Glauben und dem ihrer Mitschüler ist eher ein Bonus. "Ich finde es interessant zu erfahren, wie die anderen Religionen bestimmte Situationen bewerten", sagt René. Anna hat der Religionsunterricht im Alltag schon geholfen: "Ich weiß jetzt, warum es diese vielen verschiedenen Glaubensrichtungen im Islam gibt und ich kann muslimische Traditionen wie das Tragen eines Kopftuches besser nachvollziehen." Auch umgekehrt sehen die muslimischen Schüler den evangelischen Religionsunterricht als einen Gewinn an. "Hier erfahren wir was über die Religionen im direkten Vergleich und wer weiß, irgendwann bringt es uns vielleicht noch was", sagt Dolunay.
Interesse am Glauben, aber nicht an der Kirche
Zwei Mal die Woche haben die Schüler der 13b Religionsunterricht. Es ist einer der wenigen Orte, an dem sie über ihren Glauben sprechen. Denn in ihrem Alltag spielt er – jedenfalls für die christlichen Schülerinnen und Schüler – eher selten eine Rolle: Kirche und alles, was damit zu tun hat, haben die meisten spätestens nach Konfirmation, Kommunion und Firmung abgehakt. Für sie sei klar geworden, dass der Glaube nicht zwangsläufig etwas mit der Institution der Kirche zu tun habe. "Die Anzahl der Kirchgänge sollte nicht der Gradmesser für die Gläubigkeit sein", argumentiert Pascale und erntet dafür reihum zustimmendes Kopfnicken. "So ein Kirchgang macht nicht gläubig. Ich finde, dass die, die tatsächlich gläubig sind, die ihren Glauben im Alltag leben", ergänzt Olivia und wieder nicken alle. Nur eine junge Frau, Selina, äußert offen Zweifel an der Existenz Gottes: "Eigentlich bin ich gläubig und ich will auch glauben, aber dann passieren so viele schlimme Dinge auf der Welt, bei denen ich mir denke: Wenn es einen Gott gibt, wieso lässt er so etwas geschehen?" Die anderen Schüler reagieren mit undurchdringlichem Schweigen auf die Frage.
Dass sich Selina die Theodizee-Frage stellt, zeigt, dass sie sich mit ihrem christlichen Glauben auseinandersetzt – obwohl sie schon seit zweieinhalb Jahren nicht mehr in der Kirche war. Es widerlegt auch das Vorurteil, dass junge Menschen kein Interesse mehr am Glauben zeigten. Das Interesse ist da, das merkt man an den Antworten der 18- und 19-jährigen Schüler – nur findet die Auseinandersetzung damit für viele nicht unbedingt in der Kirche statt. Auch unter den Muslimen in der Klasse gibt es unterschiedliche Einstellungen zum Moschee-Besuch. Während Mücahit und Dolunay das Freitagsgebet in der Moschee besuchen, sofern es sich mit der Schule vereinbaren lässt, gibt Arnis offen zu, noch nie dort gewesen zu sein. "Für mich zählt allein der Glaube. Ich lese im Koran und meine Eltern haben mir viel über den Glauben beigebracht. Das reicht."
Für die Abiturienten ist der Glaube etwas Persönliches, das sie beim jeweils anderen respektieren. Kein einziges Mal lacht jemand über eine Äußerung. Auch die Erinnerungen an die Kinderbibelwoche in den Osterferien, die Ferienfreizeiten mit der Kirche oder die Mitgliedschaft im Kirchenchor bleiben unkommentiert. Auf manchen Gesichtern spiegelt sich höchstens Überraschung wieder – sie haben von der kirchlichen Vergangenheit ihrer Mitschüler bisher nicht gewusst.
Für die Schüler der 13b ist es einfach selbstverständlich, ihre Freunde nicht danach zu differenzieren, welchen Glauben sie haben oder wie sie ihn ausleben. "An Feiertagen wie Weihnachten zum Beispiel frage ich meine muslimische Freundin schon mal, was sie da so macht. Oder warum das Fasten so wichtig ist. Ansonsten reden wir aber lieber über andere Themen", erzählt Olivia. Ihre Klassenkameraden sehen das im Großen und Ganzen genauso.
Zusammenleben? "Na klar geht das!"
Allerdings sei nach den Anschlägen in Paris und mit der Verschärfung der Flüchtlingssituation sei in den Medien sehr viel mehr über den Islam berichtet worden und so sei es auch bei ihnen Gesprächsthema geworden. "Die Stimmung gegen Muslime wird angeheizt und da wird so viel Müll erzählt. Wieso sollten wir denn Angst haben? Wir sehen doch jeden Tag bei unseren Mitschülern, dass der Islam ganz anders ist", sagt Pascale und irgendwer ruft scherzhaft quer durch den Raum, dass Dolunays Oberteil doch weit genug wäre, um einen Sprengstoffgürtel zu verstecken. Alle lachen – auch Dolunay. "Solche Diskussionen sind bei uns nicht nötig, weil jeder weiß, dass Islam und Terrorismus nicht zusammenhängen", fügt Olivia hinzu, wird aber gleich darauf von René unterbrochen: "Wir wissen das vielleicht, aber da draußen gibt’s genug alte Leute, die das tatsächlich glauben. Aber die wollen sich oft auch nicht von ihrer Meinung abbringen lassen."
Auf eine der Fragen des ZDF-Gottesdienstes am Sonntag – "Können Muslime und Christen zusammenleben?" – geben die Schüler der 13b jedenfalls eine eindeutige Antwort: "Na klar geht das!"