Über dem Plenarsaal liegt eine bedrückende Stille. In Würzburg redet die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs am Dienstag ihren Bischofskollegen, Kirchenmitarbeitern und engagierten Laien ins Gewissen. Fehrs erzählt von der von einem Pfarrer missbrauchten Johanna, die im wirklichen Leben anders heißt. Sie schildert, was in der evangelischen Jugendarbeit, die sich in den 70ern der Reformpädagogik verschrieben hatte, möglich war: "Durchkitzeln auf dem Schoß des Pastors", "verbale Attacken und Demütigungen", schließlich auch "Oral- und Geschlechtsverkehr".
Ihre Rede vor der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat es in sich. Sie ist ein eindringlicher Appell, sich mit allen Konsequenzen eigener Schuld für sexuelle Gewalt gegen Kinder, Jugendliche und Schutzbefohlene zu stellen. "Eine Kirche, die solcher Gewalt nicht wehrt, ist keine Kirche mehr", sagte Fehrs. Fast eine Stunde redet sie. Das übliche Gemurmel aus den Reihen der 120 Synodalen, das Klappern der Laptop-Tastaturen fehlt. Es ist ein Bann der Stille, der sich am Ende in stehenden Ovationen für die Bischöfin entlädt, um die offenen Worte zu würdigen. "Es ist ein Einschnitt im Leben unserer Kirche", findet Synodenpräses Irmgard Schwaetzer als erste wieder Worte.
Aufarbeitung läuft regional sehr unterschiedlich
Der große Applaus ist auch Ausdruck der Wertschätzung für die zierliche Bischöfin, die durch einen Missbrauchsskandal in Ahrensburg unfreiwillig zum Gesicht der evangelischen Kirche für das Thema Missbrauch wurde. Fehrs begleitete die Aufarbeitung, hörte Betroffenen zu - eine Aufgabe, die sie manchmal an die Grenzen gebracht habe, wie sie vor der Synode gesteht. In der vergangenen Woche wurde Fehrs zur Sprecherin des von den evangelischen Landeskirchen berufenen fünfköpfigen Beauftragtenrats zum Thema Missbrauch berufen.
Insgesamt, finden Kritiker, passiert all das in der evangelischen Kirche spät. Seit Bekanntwerden der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche vor acht Jahren hat sie zwar Präventionskonzepte auf den Weg gebracht. Aufarbeitung läuft regional aber sehr unterschiedlich. Unabhängige Kommissionen haben nur 10 der 20 Landeskirchen eingerichtet. Eine flächendeckende Untersuchung, wie sie die katholische Kirche vorgelegt hat, gibt es bislang nicht.
Die durch die Kommissionen bekannten 479 Missbrauchsfälle in der evangelischen Kirche sind daher keine zuverlässige Zahl. Forderungen nach verlässlicher Aufarbeitung wurden deswegen vor der seit Sonntag in Würzburg tagenden Synode lauter, auch vonseiten der von der Bundesregierung eingerichteten Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs.
In den Kirchengremien wurde beraten. Am Samstag entschied die Kirchenkonferenz, der Zusammenschluss der Landeskirchen, zwei Studien zu beauftragen zur Aufklärung des Dunkelfelds und von Risikofaktoren in den evangelischen Kirchen. Denn die, da ist Fehrs sicher, gibt es nicht nur bei den Katholiken mit dem Zölibat. Sie sprach von begünstigenden Faktoren auch in der evangelischen Kirche - eben die Reformpädagogik, aber auch machtbewusste Pfarrer und ein ungeklärtes Nähe-Distanz-Verhältnis in Gemeinden und Diakonie-Einrichtungen.
"Bundesweite Anlaufstelle für Betroffene geplant"
Am Mittwoch wird die Synode den Haushalt der EKD beschließen, in dessen Entwurf 1,3 Millionen Euro für das Maßnahmenpaket zum Thema Missbrauch vorgesehen sind. Neben der Beauftragung der Studien soll eine zentrale, bundesweite Anlaufstelle für Betroffene eingerichtet werden, wie es sie bislang nur auf Ebene der Landeskirchen gibt. Fehrs und der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm appellierten an Betroffene, sich zu melden.
Am Dienstag kündigte zudem Diakoniepräsident Ulrich Lilie an, dass es auch für den Bereich des evangelischen Wohlfahrtverbandes eine eigene Studie geben soll. Zwei Drittel der bislang bekannten Fälle betreffen Heime - und damit den Bereich der Diakonie.
Und bei den zwei bundesweiten Studien wird es aller Voraussicht nach auch nicht bleiben. Fehrs erläuterte, die Grundlage der Risikofaktoren-Studie sollen regionale Untersuchungen aus allen Landeskirchen bilden. Sie äußerte sich zuversichtlich, dass auch die Landeskirchen, die heute hinterherhinken, sich beteiligen. Deutlicher wurde Synodenpräses Schwaetzer: "Für uns ist klar, dass keine Landeskirche hinter den Stand der Verabredungen von heute zurückgehen kann."