"80 Jahre Reichspogromnacht, 100 Jahre Ausrufung der Republik und 100 Jahre Ende Erster Weltkrieg. Die vergangenen 72 Stunden sind voller bemerkenswerter Erinnerungstage", mit diesen Worten beginnt Heinrich Bedford-Strohm. Und während die EKD-Synode 2018 in Würzburg stattfindet, versammeln sich in Paris Staats- und Regierungschefs aus der ganzen Welt, um an das Ende des Ersten Weltkriegs am 11. November 1918 zu erinnern. Seinen Bericht stellt Bedford-Strohm unter das Bibelwort "Das tut zu meinem Gedächtnis" (Lk 22,19).
Vieles finde heute auf einem politischen Kampfplatz statt. "Make yourself great again! Mach Dich groß, indem du die anderen klein machst. Das ist der Sirenengesang der Populisten, der aus so vielen Ecken dieser Welt mit voller Lautstärke auf uns eindringt", kritisiert Bedford-Strohm und warnt vor einer Spaltung der Gesellschaft. Parallel mache sich ein neues Gefühl von Verunsicherung breit. Insbesondere würden rechtspopulistische Kräfte in ganz Europa, aber auch weit darüber hinaus, Angstgefühle verstärken, um politisch davon zu profitieren. Sie nutzten die neuen digitalen Technologien nicht dazu, aufzuklären und Ängste zu überwinden, sondern sie nach Kräften zu schüren und zu verstärken. Dies führe zuweilen bis hin zur Sprachlosigkeit zwischen verschiedenen Teilen der Gesellschaft.
Die Sprache wiederfinden: Friedensprojekt Europa
Vor 120 Synodalen appelliert der Ratsvorsitzende, positive und hoffnungsvolle Geschichten weiter zu erzählen. So war für ihn die große Kundgebung am 13. Oktober 2018 in Berlin ein Ausdruck einer Revitalisierung von buchstäblicher geistreicher Freiheit. Es sei ein wichtiges Zeichen gewesen, als 240.000 Menschen zusammenkamen, um gegen Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit und für ein weltoffenes Deutschland zu demonstrieren. Es sei, als ob die Zivilgesellschaft ihre Sprache wiedergefunden hätte. "Das ist wichtig. Denn welche Geschichten wir zu erzählen haben, ist von entscheidender Bedeutung. Es kann die Seele eines Landes prägen." Solche Geschichten und auch solche Bilder seien bedeutsam. Aus diesem Grund habe sich die Evangelische Kirche auch bei einer Aktion besonders engagiert, die von der von ihr mitgegründeten "Allianz für Weltoffenheit" ausgegangen ist und vom 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit, bis zum Tag der Menschenrechte am 10. Dezember 2018 dauern soll. Unter dem Motto "Deutschland#vereint" hat dieses Bündnis von Kirchen, Religionsgemeinschaften, Gwerkschaften und Arbeitgebern und anderen gesellschaftlichen Großorganisationen mit Unterstützung namhafter Unternehmen eine Kampagne gestartet, in der Menschen aufgefordert werden, Bilder von positiven Erfahrungen mit dem Zusammenleben der unterschiedlichen Menschen in diesem Land auf die Kampagnenseite zu stellen.
"Heute vor 100 Jahren war Europa ein Leichenfeld, weil von nationalen Interessen geleitete Kräfte und Regierungen die Völker gegeneinander aufgehetzt hatten, und auch weil die Kirchen unkritisch in den nationalen Begeisterungstaumel eingestimmt und die Waffen für diesen schrecklichen Krieg gesegnet haben", sagte der Ratsvorsitzende. "Mit guten Gründen haben unsere Mütter und Väter dann nach einem weiteren schrecklichen Krieg die richtigen Schlüsse gezogen: Nie wieder Krieg! Nie wieder Nationalismus!" Denen, die heute die Errungenschaften der Zusammenarbeit und Freundschaft in Frage stellen wollen, hielt Bedford-Strohm entgegen: "Gerade wir Christen werden dafür einstehen, dass die Lehren aus der Geschichte nicht über Bord geworfen werden und die Versöhnung der Völker das oberste Ziel unseres gesellschaftlichen und staatlichen Handelns bleibt! Hass und Misstrauen haben keine Zukunft!", sagte Heinrich Bedford-Strohm vor den 120 Synodalen in Würzburg.
Gegen Hass und Verunsicherung
Mit scharfen Worten wandte sich Heinrich Bedford-Strohm gegen relativierende Äußerungen von AfD-Politikern zur deutschen Geschichte. "Wir lassen nicht zu, dass das Holocaust-Mahnmal als 'Denkmal der Schande' bezeichnet und eine 'erinnerungspolitische Wende um 180 Grad' gefordert wird oder die Verbrechen des Nationalsozialismus als 'Vogelschiss der Geschichte' bezeichnet werden", sagte Bedford-Strohm unter Beifall, ohne die AfD oder einen ihrer Spitzenvertreter namentlich zu nennen. Solch ein Denken bilde den "Nährboden für rechte Wirrköpfe oder zynische antisemitische Ideologen, die auch vor offener Beleidigung oder sogar Gewalt gegen Juden nicht zurückschrecken". "Dem Widerstand entgegenzusetzen, ist die Aufgabe aller Demokratinnen und Demokraten in Deutschland", sagte der bayerische Landesbischof, der seit 2014 an der Spitze der EKD steht.
In der modernen Gesellschaft brauche es Institutionen, die das kollektive Gedächtnis nähren und damit Orientierung geben. Der Kirche komme dabei eine zentrale Rolle zu. "Eine Gemeinschaft, zu deren zentralem Selbstverständnis die Erinnerung an das Leiden Jesu Christi gehört, kann gar nicht anders, als sensibel für das Leiden der Menschen in Vergangenheit und Gegenwart zu sein. Eine stärkere Triebkraft für eine ausgeprägte Erinnerungskultur ist kaum denkbar." Mit Blick auf die gerade begangenen Gedenktage sagte Bedford-Strohm: "Opfer der Geschichte sind nicht vergessen, sondern in Gottes Gedächtnis eingeschrieben." Angesichts der Auferstehungshoffnung dürfe, in aller Zurückhaltung, aber auch von dem Lichtschein gesprochen werden, "der - so dürfen wir hoffen - auch in das Dunkelste der Geschichte hineinzustrahlen vermag."
EKD bittet um Vergebung und will Aufklärung
In seinem Ratsbericht ging Bedford-Strohm auch auf das Thema "Sexualisierte Gewalt in der Kirche" ein. Nach der Ende September vorgestellten Studie über Missbrauch in der katholischen Kirche wurden aus Politik und Gesellschaft auch Rufe lauter, die evangelische Kirche müsse sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen in ihren Reihen aufarbeiten.
Eines unterscheide die Kirchen von den anderen Organisationen, sagte Bedford-Strohm. "Wir sind, ganz gleich ob evangelisch oder katholisch oder orthodox oder freikirchlich, als Kirche eine Institution, die sich auf Jesus Christus bezieht, denjenigen, der für radikale Liebe steht", sagte der Ratsvorsitzende. Wenn im Rahmen einer Institution, die sich auf Jesus Christus beziehe, Handlungen passieren, die das Leben von Menschen zerstören, werde mit Füßen getreten, wofür die Kirche stehe: "Einen tieferen Widerspruch kann ich mir kaum vorstellen. Ich bitte alle Menschen, denen solches Leid im Raum der Evangelischen Kirche widerfahren ist, im Namen des Rates der EKD um Vergebung. Wir werden alles tun, was möglich ist, um das, was geschehen ist, konsequent aufzuarbeiten und aus den Fehlern zu lernen, die wir auch als evangelische Kirche im Umgang mit dem Thema Sexualisierte Gewalt gemacht haben", so der Ratsvorsitzende. Er forderte "Null-Toleranz gegenüber Tätern und Mitwissern". Dafür stehe die Kirche in der Pflicht.
Die evangelische Kirche muss nun aus den Fehlern lernen, die sie im Umgang mit sexualisierter Gewalt gemacht hat. Im Juni 2018 hatte das Dritte Hearing der Unabhängigen Kommission zur Aufklärung des sexuellen Kindesmissbrauchs stattgefunden. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse hat die Kirchenkonferenz der EKD Anfang September ein weiteres Maßnahmenpaket beschlossen. Zu den bereits umgesetzten Maßnahmen gehört auch der fünfköpfige "Beauftragtenrat der EKD Sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche – Prävention, Intervention, Aufarbeitung und Hilfe", dessen Sprecherin nunmehr Bischöfin Kirsten Fehrs ist. Bischöfin Fehrs wird die bisherigen und künftigen Maßnahmen zur Aufarbeitung und Prävention sexualisierter Gewalt am Dienstag vor der Synode vorstellen.
Eine Kirche der Authentizität
In seinem Bericht griff Bedford-Strohm das Bild der verriegelten Tür in Zeiten der Verunsicherung auf. Gottes Wirken in der Welt habe sich noch nie von verriegelten Türen, von Mauern und Zäunen oder falsch verstandenem institutionellem Selbstverständnis begrenzen lassen. "Wo der Geist Gottes ist, da ist Freiheit, da ist Wahrheit und da wird Verantwortung sein."
Heinrich Bedford-Strohm baut auf die "Authentizität" der Kirche. Sie sei die wichtigste Grundlange dafür, dass sie in der heutigen Zeit neue Ausstrahlungskraft gewinne. Er kritisierte, dass vieles zu hölzern oder wie eine angelernte theologische Wahrheit klinge, wenn als Kirche von Jesus Christus gesprochen werde. "Viel zu wenig kommen das Gefühl und die Erfahrung rüber, dass die Orientierung an Jesus Christus wirklich die Grundlage für ein erfülltes Leben ist, die Grundlage für ein tief in der Seele verwurzeltes Lebensgefühl, das uns als Kirche prägt und das man an uns wahrnimmt." Er fügte hinzu: "Nur wer innerlich strahlt, kann auch ausstrahlen."
Der Ratsvorsitzende baut auf echte Hoffnung, statt billigen Optimismus. In seinem Bericht rief Heinrich Bedford-Strohm dazu auf, die Folgen des Mitgliederrückgangs in der Evangelischen Kirche in Deutschland stärker in den Blick zu nehmen. "Wir werden kleiner", sagte Bedford-Strohm am Sonntag in Würzburg bei der EKD-Synodentagung. Die dahinterstehenden demografischen und soziologischen Faktoren könne die evangelische Kirche nicht ins Gegenteil verkehren. Die Menschen seien heute, anders als früher, meist nicht mehr in der Kirche "weil es sich so gehört, weil die Eltern das erwarten". Sondern sie würden aus Freiheit entscheiden, ob sie einer Religionsgemeinschaft angehören wollen und welche es sein soll, sagte Bedford-Strohm. Noch vor zehn Jahren gehörten 24,8 Millionen Menschen in Deutschland einer evangelischen Kirche an. Heute sind es rund 21,5 Millionen deutsche Protestanten. Das Reformationsjubiläum habe zu vielen Sympathien gegenüber der evangelischen Kirche geführt; Neueintritte wurden deswegen aber nicht verzeichnet.
Bedford-Strohm zitierte Bischof Axel Noack, der bereits vor Jahren sagte: "Fröhlich kleiner werden und dabei wachsen wollen." Es müsse Heimat im Glauben geschaffen werden. "Mittelfristig sind die finanziellen Gestaltungsspielräume noch voll gegeben", sagte Heinrich Bedford-Strohm. Aufgrund der sinkenden Mitgliedszahlen werde man sich am Montag auf der Synode der EKD aber mit langfristiger Finanzierung beschäftigen. Eine weitere Herausforderung sei, dass Kirchen mit modernen Kommunikationstechnologien viel vernetzter als bisher arbeiten müssten, um dem Lebensstil und der Lebenssituation der Menschen heute gerecht zu werden.
Den digitalen Wandel aktiv gestalten
Jetzt seien die Weichen dafür zu stellen, die Kommunikation des Evangeliums in der digitalen Gesellschaft als Kernauftrag der evangelischen Kirchen im 21. Jahrhundert zu entwickeln, so Bedford-Strohm. Der digitale Wandel müsse von der Kirche aktiv gestaltet werden. "Wir sollten als Kirchen wegen der ethischen Ambivalenz der digitalen Welten unser Engagement in diesen Welten nicht einschränken, sondern, im Gegenteil, deutlich ausbauen", so Bedford-Strohm. "Neben der Präsenz in den digitalen Welten wird die andere Antwort wichtig bleiben: Face-to-face zu arbeiten, als glaubwürdige Christenmenschen uns begegnen und mit unserem Leben Zeugnis ablegen", so Bedford-Strohm. Er kritisierte, dass die digitale Kommunikation von Milliarden Menschen von einigen wenigen mächtigen Firmen kontrolliert würde. Dies habe Auswirkungen auf die politische Einflussnahme, wie die Rolle von Cambridge Analytica im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf gezeigt habe. "Die Rolle Russlands in der Beeinflussung ausländischer Wahlkämpfe, der systematische Einsatz von social bots, die gezielt Falschnachrichten verbreiten, geben eine noch relativ diffuse Ahnung davon, wie die Nutzung von Algorithmen massive Folgen auch für den öffentlichen Diskurs haben kann", betonte Heinrich Bedford-Strohm.
Er forderte eine intensivere Auseinandersetzung mit Ethik in der digitalen Kommunikation und dass das kirchliche Engagement in den digitalen Welten ausgebaut werde. "Dort präsent zu sein, wo die Menschen viel Lebenszeit verbringen, gehört jedenfalls zu unserem ureigenen Auftrag. So wie Martin Luther den Buchdruck nutzte, um die gute Nachricht von Gottes Liebe in dem Menschen Jesus Christus in alle Welt hinauszutragen, so sind wir gerufen, die heutigen digitalen Technologien dafür zu nutzen." Kirchenpräsident Volker Jung wird am Dienstag auf der Synode der EKD über Projekte, die auf den Weg gebracht werden sollen, sprechen.
Hoffnung für eine engagierte Kirche der Zukunft
Am Sonntagabend und Montag wird sich die Synode mit ihrem diesjährigen Schwerpunktthema, dem Glauben junger Menschen, befassen. Junge Menschen seien nicht nur die Zukunft der Kirche, sondern vor allem ihre Gegenwart, so Bedford-Strohm: "Schon jetzt bringen sie neue Ideen, ihre je spezifischen Erfahrungen und auch ihre besonderen Kompetenzen ein - etwa bei Fragen der Digitalisierung sind wir auf ihre Kompetenz besonders angewiesen." Junge Menschen seien die Zukunft der Kirche. Daher müsse klar werden, wie junge Menschen für die Kirche interessiert werden könnten und wie Kirche gegenüber jungen Menschen sprachfähig werden könne. Wichtig sei, dass junges Engagement in der evangelischen Kirche künftig noch sichtbarer werde.
Ein weiteres Ziel der evangelische Kirche sei es, die Ökumene zu vertiefen, so Bedford-Strohm. Man wolle schließlich das Abendmahl jenseits konfessioneller Grenzen gemeinsam feiern können. Seinen Ratsbericht auf der Synode der EKD 2018 schloss Heinrich Bedford-Strohm mit der Ermutigung, nicht die Hoffnung darauf zu verlieren, unsere Zukunft gestalten zu können - trotz aller Verunsicherung, Hass, Gewalt, Intoleranz und all dem damit verbundenen Leid.
Bis zum 14. November 2018 beraten die 120 Delegierten in Würzburg unter anderem das diesjährige Schwerpunktthema "Ermutigung und Zugehörigkeit – der Glaube junger Menschen". Der gesamte mündliche Bericht des Ratsvorsitzenden, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, unter www.ekd.de/synode2018-ratsbericht-muendlicher-teil-39850. Den Facebook-Livestream vom mündlichen Bericht des Ratsvorsitzenden gibt es hier zum Nachschauen: https://www.facebook.com/ekd.de/videos/318328855429022/.