Nach Kirche sieht es hier nicht gerade aus. An der Rotunde der Psychiatrieabteilung der Frankfurter Uniklinik steht zwar Kapelle, doch sie ist werktags ein leerer Funktionsraum mit vielen Stühlen. Doch feste Räume braucht Klinikseelsorgerin Petra Babylon (51) weniger, als ein unerschütterliches, pragmatisches Selbstbewusstsein. Denn Normalität ist hier keine belastbare Größe. Zuhören ist ihr Weg in die Parallelwelten der Patienten. Obwohl die durchschnittliche Verweildauer auf den Stationen bei 21 Behandlungstagen liegt, begegnet sie noch Leuten, die sie schon 2008 traf, als sie dort anfing.
Am Klinikum ist die Seelsorgerin für vier Häuser und elf psychiatrische Stationen zuständig, da bleibt keine Zeit für eine eigene Kirchengemeinde. Von 10 bis 17 Uhr ist sie in der Klinik unterwegs, dazu kommen monatlich vier Rufbereitschaften und zwei Gottesdienste im Wechsel mit ihrem katholischen Kollegen. Sie organisiert auch Café-Treffen, Ausflüge und Kinobesuche. Doch etwas ist immer etwas anders. Nach den Gottesdiensten seien fünf Patienten da und nur auf sie fixiert, statt sich untereinander auszutauschen. Oder beim Taizé-Gebet. "Fünf Minuten Stille, das ist für viele gar nicht auszuhalten."
Oft geht es ihr erst einmal darum, ihr Gegenüber zu verstehen. Konventionelle Hilfsmittel wie die Holzkasten mit den Figuren zur Familienaufstellung habe sie aber erst einmal verwenden können, erzählt Babylon. Dafür wird sie häufig mit symbolträchtigen Geschichten angesprochen etwa mit der von der Versuchung Jesu in der Wüste. Dabei geht es nicht um bibeltreue Dinge, damit wolle der Patient in der geschützten, unpersönlichen Form sagen, er habe etwas Verbotenes getan.
Der Teufel und die Apokalypse
Doch solche Gespräche bergen stets die Gefahr einer immensen Fallhöhe. "Man kann auch als Profi schnell danebenliegen", sagt sie. Eine junge Frau habe nach gutem Behandlungsverlauf Ausgang erhalten. Ihre Eltern nahmen sie mit nach Hause - und in einem unbeobachtet Moment stürzte sie sich aus dem Fenster, berichtet Babylon. Auch müsse sie aufpassen, nicht religiöse Neurosen zu bedienen. Sie habe schon Evangelikale erlebt, die sich vom Teufel verfolgt fühlten. Die Apokalypse ist auch ein häufiges Thema mit der bangen Frage: "Was kommt danach?" Ein anderes Mal habe sie das verstorbene Kind einer Muslima bestattet - ohne jede religiöse Symbolik.
Deswegen ist es Ihr wichtig, immer im Gespräch zu bleiben. Je ein Viertel ihrer bis zu zehn Kontakte pro Tag wird von Pflegern oder Ärzten und Psychologen angefragt, die andere Hälfte von Patienten, die entweder von der Station aus anrufen oder das Tür- und Angelgespräch suchen. Manchmal geht sie mit den Patienten auch zu der noch unverbauten Klinikwiese, "denn beim Laufen fließen die Gedanken".
Für helfende Gespräche ist Petra Babylon gleich doppelt qualifiziert, neben der Theologie hat sie auch eine Ausbildung als Sozialarbeiter absolviert und schon während ihres Vikariats in der Psychiatrie hospitiert. Deshalb betont sie auch die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Professionen. "Die Sozialarbeiter sind immer mit ihren Kladden und Dokumenten unterwegs. Ich gehe ohne etwas hinein, bin nur als Ich da." Doch dazu gehören viel Selbstbewusstsein, Gelassenheit - und auch ein paar Tricks. So hört Babylon immer wieder die Geschichten von Leuten, die sich stets als Opfer von Schicksalsschlägen präsentierten. Sie könnten nicht akzeptieren, sich auch mal an die eigene Nase zu fassen und stilisierten sich so selbst zu einem Gut, um den alles kreise. Da helfe nur noch eine paradoxe Intervention, sagt Babylon. Wenn ihr Gegenüber dann wieder endlos klage, "Dann überhole ich ihn rechts, bestätige, dass alles ganz schlecht ist" solange, bis ihn das zum Widerspruch reizt und ihm auch gute Dinge einfallen.
Ganz wichtig ist es ihr, die Hoffnung aufrechterhalten. Das ist in einer Abteilung besonders schwer, um die sich Babylon sorgt: die gerontopsychiatrische Station. Eine Singgrupe hat sie für die altersdepressiven Menschen gegründet, lernt einige von ihnen langsam kennen, wie die nette Dame, die früher bei der Polizei war. Doch nach ihrer Entlassung fallen diese Patienten wieder in ein Loch. Gefragt nach ihren beruflichen Wünschen, fällt Babylon ganz pragmatisch nur diese Gruppe ein: "Es wäre schön, wenn sich Ehrenamtliche für einen Besuchsdienst engagieren würden."
Entscheidungen akzeptieren - ohne Wenn und Aber
Dennoch ist sich Babylon über die Grenzen ihrer Arbeit bewusst. Eine Normalität herstellen, das bedeutet für die Seelsorgerin, sie zu einem Verhalten zu bewegen, bei dem sie keinen Schaden nehmen. Doch sie betont: "Der Mensch ist immer noch verantwortlich dafür, wie erleben will." So müsse sie auch die Entscheidung einer Dame akzeptieren, die nach ihre Entlassung ein Zimmer inklusive Putzkraft erhielt. Doch ihr war es dort zu einsam, die Putzkraft angeblich nicht sorgfältig genug. Nun lebt sie in der Bahnpassage der Frankfurter Hauptwache und findet das gut, da gebe es auch Schutz - die Security.
"Das ist schon massiver Input", räumt Babylon ein, der müsse in ihrer Freizeit ebenso neutralisiert werden. Da hilft es ihr schon, dass sie als Pendlerpauschale jeden Tag im fernen Heppenheim auf Abstand geht, die Zugfahrt zur Entspannung nutzt und viel Sport treibt: Zumba, Yoga. Manchmal helfe es ihr auch, einfach einen Baum zu umarmen und die Energie abfließen zu lassen "Oder ganz profan beim anstehenden Hausbau mit anzupacken." Eine Weisheit hat sie aus ihrem Job in der Parallelwelt ihrer Patienten allerdings mitgenommen: Muss denn immer alles perfekt sein? Und es gibt für Petra Babylon ein untrügliches Zeichen für das Gelingen ihrer Arbeit: "Das Gespräch endet erst, wenn jemand lächelt."