"Bildung ist gut und wichtig, aber kein Allheilmittel", betonte der 70-Jährige. Die ersten, die einst in großer Zahl zu den Nazis übergelaufen seien, seien die deutschen Hochschullehrer gewesen. "Wir brauchen Prävention und die konsequente Anwendung des Rechts", sagte er. Doch genau dies geschehe in Deutschland oft nicht.
Er nannte "das staatliche Versagen zu Beginn der Flüchtlingskrise 2015" als Beispiel. Die Juden wüssten zwar, dass Menschen in Not geholfen werden müsse. Während des Holocausts sei es überlebenswichtig für die Juden gewesen, dass einige Staaten ihre Tore geöffnet haben. Ihn mache aber sprachlos, dass man nicht versucht habe, in ordentlichen Auffanglagern herauszufinden, wer ins Land komme. "Das ist völlig inakzeptabel aber leider symptomatisch", sagte Wolffsohn. Der Staat mache sich heute immer öfter lächerlich. Großprojekte scheiterten, die Autoindustrie zerlege sich selbst, die Energiewende werde dilettantisch angegangen. Dies alles erzeuge große Angst in der Bevölkerung.
Wolffsohn sagte, es gebe in Deutschland den Antisemitismus der traditionellen Rechtsextremen und den Antisemitismus bei der radikalen Linken: "Aber ist unbestreitbar, dass Gewalt gegen Juden durch zumeist junge Muslime zugenommen hat - quantitativ und qualitativ." Das liege nicht einzig und allein an der arabisch-islamischen Feindschaft zu Israel, der Antisemitismus der arabischen Welt sei viel älter. "In der Sure 2 des Korans werden Juden als 'ausgestoßene Affen' verflucht", erläuterte der Historiker. Ein weiterer Grund für den aggressiver werdenden Antisemitismus sei die religiöse Radikalisierung des Islams. Zudem schwappe der Nahost-Konflikt nach Europa und Deutschland.
Der Bundestag hatte die künftige Bundesregierung Mitte Januar aufgefordert, einen unabhängigen Antisemitismus-Beauftragten zu berufen. Ein gemeinsamer Antrag von Union, SPD, FDP und Grünen zur Bekämpfung von Judenhass wurde einstimmig vom Parlament verabschiedet.
Wolffsohn wurde 1947 in Tel Aviv geboren und lehrte mehr als 20 Jahre lang Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München.